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Der Mensch ist nicht geboren, um siebzig oder mehr Jahre alt zu werden und folgerichtig ereilen uns im Alter schwere Krankheiten; bleiben wir von diesen verschont, lassen auf jeden Fall die Körper- und Geisteskräfte nach. Kurzum, als alter Mensch wird man hilfsbedürftig und ist im allgemeinen froh, wenn Verwandte und ausgebildete Betreuer einem das Leben erleichtern und die Fährnisse tragen helfen. Aber auch nur im allgemeinen.

Bei manchen Menschen gilt: Verwandte ja, Fremde nein, und zwar mit Ausrufezeichen, fettgedruckt und dreifach unterstrichen. Die ersten Unzulänglichkeiten können durchaus amüsant sein, und man denkt: aha, nun wird er oder sie alt, wenn etwa dieselbe Geschichte dreimal innerhalb von zehn Minuten erzählt wird, oder wenn des öfteren der Vorwurf erhoben wird, man spreche undeutlich.

Muddi beispielsweise hatte immer Lavendel von ihrem Garten in der Wohnung, denn das hält die Fliegen fern. Bei einem Spaziergang zeigte ich auf eine Vielzahl Möwen und sagte: "Was machen denn die vielen Möwen hier?" Worauf Muddi sagte: "Hast du da Last mit? Ich hab immer Lavendel in der Wohnung, das mögen die nicht." Ich wies sie auf die Möwen hin, worauf sie meinte, sie habe Mücken verstanden. "Aber du sprichst manchmal auch so undeutlich." Möwen, Mücken, Fliegen - nun wird sie wirklich alt, dachte ich.

Später belächelt man die diversen Aussetzer nur noch selten, und irgendwann sagt man sich: nun braucht sie allmählich eine Betreuung. Gesagt, getan, erkundigt - alles kein Problem, außer daß die zu betreuende Person zustimmen muß. Und zustimmen wollte Muddi um keinen Preis, bzw. nicht um freundliche Worte und auch nicht um Ausschimpfen. Endlich hatte ich jemanden dazu gebracht, einen Hausbesuch zu machen. Wie es denn gewesen sei, fragte ich hernach. Oh, sie - also die Fachkraft - habe durchaus Bedarf an Betreuung erkennen können, aber Muddi habe gesagt, daß sie niemanden brauche, ihr Sohn mache das für sie. Hoppla! dachte der Sohn.

"Dicki" hat natürlich mit Dickschädel zu tun, und Dickschädel sind gewissermaßen erblich. Wie also mit Muddis Dickschädel umgehen? Den farbenfroh-freundlichen Beschreibungen einer zukünftigten Betreung fügte ich Überlegungen hinzu, daß ich auch mal dauerhaft verhindert sein könnte, durch Unfall oder durch Umzug, und was dann, es sei ja niemand sonst da. Aber nicht das sorgte sie, sondern daß sie nicht ständig jemanden um sich haben könne oder, ein andermal, daß sie keine Fremden in der Wohnung haben wolle, und, generell, "ich komme ganz gut alleine zurecht."

Zu der Zeit dieser Geplänkel hatte sie die Angewohnheit entwickelt, Dokumente und Wertsachen umzuräumen; von hier nach dort, von dort nach irgendwo, von irgendwo nach weißichnichtmehr, und das betraf auch ihre Schlüssel. Also sperrte sie sich mehrfach aus, hatte zeitweilig keinen, dann drei Schlüsselbünde, dann einen oder zwei; ihr Portemonnaie verschwand und tauchte auf und verschwand wieder; begleitet von Angstträumen und nachfolgenden Anrufen bei mir. Ich gewöhnte mich daran, ihr zu sagen, sie habe schlecht geträumt, wenn sie hochdramatische Geschichten von Gefangennahme, Raub und Prügel erzählte und unvermittelt sagte: "dein Vater ist auch noch nicht wieder zuhause, ich verstehe das nicht." Das verstand ich auch nicht, denn der gute Mann ist seit über dreißig Jahren tot und begraben.

Ich griff zu einer verzeifelten Lüge. Ich hätte ein Angebot aus Frankfurt und werde schon in Kürze aus Bremen wegziehen. Das trieb ihr zwar die Tränen in die Augen (sodaß ich meinen Schwindel sogleich bereute), hatte aber nur eine Trotzreaktion zur Folge: "Ich komm schon irgendwie zurecht, mach dir um mich keine Sorgen." Unterdessen hatte die oben erwähnte Fachkraft nochmal bei Muddi angerufen, sie wolle einen Besuch bei ihr machen. Das war Muddi nicht recht. "Ich hab ihr gesagt, sie könne mich nicht stoppen, ich sei schon auf dem Weg zu ihr. Als ich ein paar Minuten später bei ihr klingelte, hat sie nicht aufgemacht."

Da war ich bereit, alles auf eine Karte zu setzen. Anhand einer Fotokopie studierte ich Muddis Unterschrift ein, vereinbarte mit der Fachkraft einen Termin bei Muddi, die sich wie erwartet sträubte, und bat die Betreuerin Muddis in spe uns für eine Minute alleine zu lassen. "Guck mal," sagte ich zu Muddi, "du brauchst doch nur hier zu unterschreiben." Dabei deutete ich auf den Pflegevertrag. "Und zwar so." Gekonnt setzte ich ihren Schriftzug unter das Dokument. "Siehst du?" "Und jetzt?" fragte sie. "Jetzt lasse ich dich in Ruhe." Mit stolzgeschwellter Brust übergab ich der Fachkraft den unterschriebenen Vertrag, ein erster Besuchstermin wurde vereinbart, die Welt war voller Sonnenschein. Doch wie hatte ich glauben können, damit seien die Schwierigkeiten überwunden?! Es war im Gegenteil erst der Anfang, und ich sollte es nur allzubald erfahren.
 

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