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Eugen

Eugen klappte die Kladde mit den Aufzeichnungen für eine neue Arbeit zu, lehnte sich zurück und seufzte: endlich Feierabend. Mit mehr gespielter als echter Erschöpfung ließ er den Kopf nach hinten auf die Sessellehne kippen und starrte leeren Blickes an die Decke.

Zuerst war es nur ein dunkler Punkt, dessen Rand irgendwie unbestimmt, unruhig zu sein schien. Der Punkt hob sich deutlich gegen die hellgestrichene Decke ab und befand sich offenbar ein wenig unterhalb der Decke, im Raum. Eugen fixierte den Punkt, sein Interesse war geweckt. Der Punkt wurde größer, die Bewegung an seinem Rand deutlicher - eine Spinne. Eine kleine Hausspinne, der Leib vielleicht so groß wie ein Streichholzkopf, senkte sich tastend herab und Eugens Gesicht entgegen.

Eugen war unfähig sich zu bewegen. Gebannt starrte er das Tierchen an, daß nach einer Weile auf seiner Nase Halt fand, dort einen Spinnfaden anheftete und zum Haaransatz hinaufstakste (Eugen verrenkte die Augen, um die Spinne im Blickfeld zu behalten; er wagte kaum zu atmen). Schlagartig wurde ihm die Situation bewußt: er hätte sich fortbewegen können, hätte die Spinne vielleicht ergreifen und in einen entlegenen Winkel setzen können, solange sie noch im Niedersinken begriffen war. Aber jetzt, da sie anscheinend im Begriff stand, ein Netz zu bauen, dessen Fundament sein Kopf darstellte, hatte er den schicklichen Zeitpunkt verpaßt und hätte ihr (angefangenes) Netz zerstören müssen. Das brachte er nicht übers Herz.

So saß er im Sessel, sah die Spinne oberhalb seines Kopfes wieder auftauchen und zielstrebig Faden auf Faden zwischen den Grundsträngen ziehen. 'Zu dumm', dachte er, 'nun sitze ich hier sinnlos herum, weil ich ihr Werk nicht beschädigen will.' Dann gefiel ihm aber doch das Gefühl, aller Verantwortung enthoben zu sein, nichts für seine Untätigkeit, für die Sinnlosigkeit der Situation zu können, da er nun einmal vollkommen richtigerweise Respekt vor dem Schaffen Anderer hatte.

Reglos saß er im Sessel und sah der Spinne bei ihrer Arbeit zu. 'Welches Vertrauen so ein Tier hat', dachte er. 'Wie kann es wissen, ob sich jemals eine Fliege, klein oder groß, im klebrigen Gewebe verfangen wird. Die Natur hat ihm die Fähigkeit zum Bau eines Netzes gegeben, und es macht davon Gebrauch, ohne je an sich oder an der Natur zu zweifeln.'

Widerwillig registrierte Eugen ein leichtes Drücken seiner Blase. Daran hatte er gar nicht gedacht, aber dieselbe Natur würde ihn früher oder später zwingen, das Spinnennetz zu zerreißen, da er nun einmal würde aufstehen müssen, um zur Toilette zu gelangen. Oder er mußte sich in die Hosen machen. Er gnickerte verhalten und malte sich die Szene aus. Um ein Spinnennetz, das an seiner Nase befestigt war, nicht zu beschädigen, würde er sich in die Hose pinkeln. Na, und wenn! Was konnte er dafür.

Die Blase drückte stärker. 'Ich werde mich doch nicht wirklich vollpinkeln? Und was, wenn ich Hunger oder Durst bekomme? Und - wie lange werde ich warten müssen, bis dies Gekrabbel sich anderswo ein neues Netz spinnt?' Unruhe ergriff ihn, während er die Konsequenzen seiner Entscheidung - nein, falsch, seiner Passivität - erwog. Eine Schweißperle lief ihm von der Stirn.

Wird Eugen den Mut finden, die Fesseln zuzerreißen? Und wenn ja, wird die Spinne ihm vergeben? Wird er sich selbst verzeihen können? (Fortsetzung folgt)

 

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