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Von der Betreuung für Muddi hatte ich eine Entlastung für mich erhofft, aber nun war ich mehr denn je eingespannt. Frau Kleine-Delle rief an, um mir mitzuteilen, daß Frau Rothermund-Düvel nicht mehr zur Verfügung stehe. Meine Mutter sei wirklich eine harte Nuß (gute Umschreibung für Dickschädel, dachte ich). Beim gemeinsamen Spaziergang habe Muddi leicht feindselig, schon fast aggressiv gewirkt; als Frau Rothermund-Düvel dann im Cafe mit dem Kellner die Bestellung - "im Interesse Ihrer Mutter!" - diskutiert habe, sei Muddi aufgestanden und mit den Worten "ich störe hier doch nur" gegangen. Das habe dann wohl keinen Sinn; sie (die Kleine-Delle) müsse nun überlegen, was man noch versuchen könne.

Muddis Version klang etwas anders. Die Rothermund-Düvel habe ihr mit allerlei Geschwätz in den Ohren gelegen, da habe sie schon keine Lust mehr gehabt. Und dann "in dem Dings, da hinten, na, am Buntentor, ich komm jetzt nicht drauf..." - "Ach, das Eiscafe, in der Nähe vom Deichschart?" - "Das wird es wohl gewesen sein. Da flirtet die mit dem Kellner, richtig schamlos. Ich bin weggegangen, die wollte nicht mich betreuen, sondern den Kerl."

Ich sah die Szene vor mir, wie der italienische Kellner "bella bellissima" und "carina" sagte und durch Blicke auf Brüste und Schenkel das mögliche Ausmaß an Wonne abzuschätzen versuchte, während Frau Rothermund-Düvel zufrieden dachte, daß sie die richtige Kleidung gewählt und das richtige Make-Up aufgelegt habe. Halt. So könnte es gewesen sein, aber die Version der Kleine-Delle klang ebenfalls glaubwürdig. Naja, das eine schloß das andere nicht aus. Ich seufzte. Nichts als Mißverständnisse. Von Muddis Seite, von seiten der Kleine-Delle, und zwischen Betreuerin und Kellner.

Ich rief die Kleine-Delle an und bat um Entschuldigung. "Wissen Sie," sagte ich, "meine Mutter ist erblich vorbelastet. Ihr Vater hat jede Betreuung vergrault und wollte nur seine Töchter um sich haben, und ihre Schwiegermutter hatte dieselbe Art, ihre Sachen herumzuräumen; Schlüssel, Ausweis, Handtasche..." - "Erblich vorbelastet durch die Schwiegermutter," schnob die Kleine-Delle, "das meinen Sie doch hoffentlich nicht ernst. Aber mir ist vorhin eine Idee gekommen, was wir tun können. Ich muß erst noch ein paar Telefonate tätigen, um das zu klären, aber ich werde Sie dann anrufen, spätestens Ende der Woche. Oder sagen wir vorsichtshalber, nächsten Dienstag. Dann weiß ich Genaueres." Ich dankte ihr, nun sei ich beruhigt, was ich aber ganz und gar nicht war,

Eine Stunde später war Muddi am Telefon. "Bist du auch mal zuhause. Der junge Mann..." - "Herr Wischmeier-Schimmelpfeng." - "So ein blöder Name!" - "So heißt er nunmal." - "Der wollte doch mit mir einkaufen gehn. Der war viel zu schnell, ich sag, warten Sie, Sie sind zu schnell. Der hat mich nicht gehört, der hatte diesen grünen Dinger, wie heißen die, jetzt finde ich das Wort nicht..." - "Kopfhörer?" - "Ja, danke. Die hat der aufgehabt und ist weitergegangen. Da bin ich nach Hause zurück, ich kann ja auch morgen einkaufen." - "Und der junge Mann?" - "Weiß ich nicht." - "Hat der sich nicht gemeldet; angerufen oder geklingelt?" - "Was du alles wissen willst." Vermutlich hatte sie ihn vor der Tür stehen lassen. Ich wechselte schnell das Thema: "Hast du was von meinen Geschwistern gehört?" - "Sei nicht so frech zu deiner alten Mutter, ich glaub ich hör noch ganz gut."

Die Kleine-Delle klang etwas verschnupft. "Tut mir leid wegen Herrn Wischmeier-Schimmelpfeng, dem werde ich Bescheid geben. Aber noch etwas anderes: wir können Ihre Mutter nur betreuen, wenn die Bezahlung gesichert ist. Herr Stemm-Eisen vom Sozialzentrum sagte mir, daß Ihre Mutter seit einem Jahr keine Grundsicherung bezieht und ..." - "Aber der neue Antrag ist doch gestellt, am Anspruch hat sich nichts geändert!" - "Sagen Sie mir Bescheid, wenn der Antrag bewilligt ist, dann können wir die nächsten Schritte veranlassen." - "Aber Sie haben doch die Hilfsbedürftigkeit selbst gesehen! Und Herr Stemm-Eisen ebenfalls!" - "Wir haben unsere Vorschriften."

Die Bewilligung hing eigentlich nur vom aktuellen Rentenbescheid ab, den ich nachreichen mußte und selbstverständlich nachreichen wollte. Zweimal schon hatte ich bei der Rentenversicherung telefonisch um erneute Zusendung gebeten, hatte um Zusendung an meine Adresse gebeten, hatte erfahren, daß dies nicht zulässig sei, aber die Zusendung an Muddis Adresse erfolgen werde. Muddi hatte keinen Rentenbescheid, nicht das Original, nicht die erste, nicht die zweite Kopie. "Es reicht auch, wenn Sie einen Kontoauszug vorlegen, aus dem die Höhe der Rente hervorgeht," sagte mir Frau Kehraus vom Sozialzentrum. Dummerweise hatte Muddi keine aktuellen Kontoauszüge, und ihre EC-Karte befand sich im Portemonnaie, das soeben seine Verschwundenphase durchlief. Immerhin konnte ich Frau Kehraus zu einem vorläufigen Bescheid überreden.

Die Kleine-Delle war nun bereit, nach der Urlaubszeit ihre Geheimwaffe (wie ich sie taufte) einzusetzen, eine Frau Rothermund-Düvel. Wiederum war ich beim ersten Besuch zugegen. Frau Rothermund-Düvel schätzte ich auf Mitte vierzig, Problemzonen Bauch-Schenkel-Po, Flatterumhang, übergeworfenes Halstuch, Klimperkram an den Handgelenken, Leggings, Stöckelschuhe. Aber ich war klug genug, sie für kompetent zu halten. Muddi lag schlafend auf dem Sofa. Ich weckte sie, indem ich herumpolterte. Sie war leicht desorientiert, aber nicht uninteressiert. "Ich wußte nicht, daß du kommst," sagte sie, schlaftrunken blinzelnd, "hast du jetzt eine andere Frau? Die kenne ich gar nicht. Na, die andere mochte ich sowieso nicht." Offenbar hielt sie mich für meinen Bruder.

"Ich bin Frau Rothermund-Düvel von dem Pflegedienst Für Sie, ich wollte Sie kennenlernen und mal sehen, was ich für Sie tun kann." Muddi sah mich fragend an. "Das ist nicht meine Frau, Muddi. Frau Rothermund-Düvel übernimmt ab heute deine Betreuung." - "Betreuung, wieso. Ich komm ganz gut allein zurecht." - "Das ist sehr erfreulich. Ich will Sie ja auch nur unterstützen, wo Sie das wollen. Ich kann zum Beispiel mit Ihnen Einkäufe machen." Schrecksekunde für mich. "Ich geh lieber selbst einkaufen." Au weia, schon passiert. "Das sollen Sie auch, ich begleite Sie einfach nur und trage Ihre Einkaufstasche, wenn Sie wollen." - "Ich will das nicht." - "Muddi, weshalb geht ihr beide nicht ein bißchen spazieren und setzt euch irgendwo hin und trinkt ne schöne Tasse Kaffee." - "Natürlich nur, wenn Sie wollen. Ich lade Sie ein. Ist doch ein schöner Tag, um an die frische Luft zu gehen." Wir redeten ihr beide noch eine Weile zu, bis sie endlich einwilligte. Auf dem Heimweg versuchte ich mir vorzustellen, was diesmal schiefgehen würde. Vergebliche Mühe, denn erstens kam es anders, und zweitens als ich dachte.

Die Kleine-Delle rief mich anderntags zurück: "Hier Kleine-Delle vom Pflegedienst Für Sie. Ah ja, Sie erinnern sich. Wir werden Herrn Wischmeier-Schimmelpfeng einsetzen, das ist der einzig verfügbare Mitarbeiter derzeit. Der hat zwar erst vorigen Monat bei uns begonnen und ist noch recht jung, aber er hat sehr gute Zeugnisse. Sollen wir das mal probieren?" - "Sicher," sagte ich, "wir werden schon noch die richtige Betreuung für Muddi finden. Und diesmal bin ich besser von Beginn an dabei." - "Darum wollte ich Sie bitten. Damit der junge Mann nicht als völlig Fremder vor ihrer Mutter steht." - "Also abgemacht."

Nachdem ich aufgelegt hatte, fielen mir eine Reihe von Fragen ein, beispielsweise ob Herr Wischmeier-Schimmelpfeng auch einer alten Dame die Haare waschen könne. Na schön, das wird sich finden. Das Telefon klingelte wieder. "Hör mal, ich muß dir was erzählen, da ist was passiert." - "Ja." - "Du glaubst mir nicht? Keiner will mir glauben, ich werde noch verrückt." - "Was ist denn passiert?" - "Da war eine fremde Frau hier, die war frech zu mir und die hat geklaut. Und die hat mich geschlagen. Und dein Vater ist nicht nach Hause gekommen, ich verstehe das nicht." Ich verstand es auch nicht; mein Vater ist schon lange tot. "Niemand ist lieb zu mir, kannst du nicht eben rüberkommen?" Ja, sicher. Ist nicht das erste Mal, daß sie nach einem sclechten Traum des Trostes bedarf. Hoffentlich klappt das mit dem Wischmeier-Schimmelpfeng, und hoffentlich stabilisiert sie das, wenigstens ein bißchen.

"Tach, Herr Wischmeier-Schimmelpfeng." Wrobel war einfacher auszusprechen. Wir trafen uns verabredungsgemäß vor der Haustür. Der junge Mann hatte lange Haare, durch ein Stirnband zurückgehalten, und sein Kinn zierte ein Fusselbärtchen. Ein grellgrüner Kopfhörer hing um seinen Hals. Wenigstens war er nicht modisch gekleidet, keine Hosen vom Modell "vollgeschissen", kein herumhängendes Sweatshirt mit dusseligem Aufdruck. Feundliches Gesicht, also sympathisch. Ich zückte die Schlüssel und ging voran. "Muddi, ich bin's, ich hab jemand mitgebracht." - "Ist das dein Sohn?" Kokettes Lächeln. - "Muddi!" - "Mein Name ist Wischmeier-Schimmelpfeng und ich werde Ihnen ab sofort helfen." - "Was denn helfen?" - "Was Sie wollen." - "Möchten Sie Kaffee?" Aha, Muddi will den Jungschen umgarnen, recht so, er soll sich aber nicht für dumm verkaufen lassen.

Eigentlich wollte ich sofort wieder gehen, aber beim Anblick des leeren Schlüsselkastens entfuhr mir ein unbedachtes "wo sind denn deine Schlüssel, Muddi?" Als ich sie vorgestern nach ihrem Angsttraum beruhigte, hingen zwei ihrer drei Schlüsslbünde in dem Kasten. "Stimmt was nicht?" fragte Muddi. "Wo sind denn deine Schlüssel?" - "Na, die tu ich doch immer in den Kasten. - Der ist ja leer! Wo sind denn meine Schlüssel hin?" Sie ging ins Wohnzimmer, ich gab Wischmeier-Schimmelpfeng einen Wink, damit er folgte. Zu dritt standen wir vor dem Sekretär, sie darin herumtastend, wir zuschauend. Sie befingerte Brillenetuis, nahm Papiere aus einem Fach, steckte sie in ein anderes. "Was suche ich eigentlich?" - "Deine Schlüssel, Muddi." - "Die sind doch in dem Dings auf dem Flur." Im Gänsemarsch ging es zum Wohnzimmer hinaus. Sie vorweg, ich in der Mitte, Wischmeier-Schimmelpfeng hinterdrein.

"Die Schlüssel sind nicht da." - "Bist du heute schon einkaufen gewesen?" fragte ich in der Hoffnung, wir bräuchten nur nach ihrer Einkaufstasche Ausschau halten. "Das weiß ich nicht mehr. Ich wollte einkaufen, war das gestern? Ich weiß nicht. Naja, ich bin ne alte Frau." Im Gänsemarsch ging es in die Küche, wo sie in den Kühlschrank schaute. "Nee, ich hab wohl noch nicht eingekauft. Dann muß ich erstmal eine Liste machen." So, Wischmeier-Schimmelpfeng, nun zeig mal, was du kannst.

"Wenn Sie erlauben, gehe ich mit Ihnen zusammen einkaufen und helfe Ihnen tragen. Was brauchen Sie denn alles?" Bravo, Wischmeier-Schimmelpfeng! Dann kümmere ich mich um die Schlüssel. Erstmal ihre Einkaufstasche suchen. An der Garderobe hängt sie nicht, auch nicht hinter der Schlafzimmertür. In der Küche hätte ich sie gesehen. Vielleicht im Wohnzimmer? Nein, das hätte ich bemerkt. Trotzdem sah ich in alle Ecken. Dabei fiel mir das Feuerzeug aus der Hemdtasche und purzelte unter das Sofa. Ich tastete danach, fand es - und die Einkaufstasche, mitsamt Schlüsselbund und Portemonnaie. Geschwind hängte ich das Teil an die Garderobe. Im selben Moment kamen Muddi und der junge Mann aus der Küche. "Essen Sie doch frische Bohnen, die sind jetzt günstig. Ein bißchen Speck und Zwiebeln dran, das wird Ihnen schmecken. Ich bereite Ihnen das auch gerne zu."

Während Muddi sich auf einen Stuhl im kleinen Zimmer setzte, um ihre Schuhe anzuziehen, verriet ich dem jungen Mann, wo ich die Einkaufstasche gefunden hatte. Und bat ihn, bei nächster Gelegenheit in den Keller zu sehen, neulich hatten dort zig leere Flaschen herumgestanden, und der Mülleimer quoll über. "Kein Problem!" sang er und strahlte. Vor der Haustür verabschiedeten wir uns. Ich sah den beiden nach, bis sie um die Ecke bogen. Und siehe da, er konnte sich nicht enthalten die Kopfhörer aufzusetzen. Das geht nicht gut, dachte ich auf dem Heimweg. Er merkt es nicht, für ihn ist das selbstverständlich. Nee, das geht nicht gut.

Das Telefon klingelte. Bestimmt Muddi, dachte ich. "Hör mal, hier ist eine fremde Frau in meiner Wohnung, die kann nicht mal richtig deutsch, die behauptet, wir sind verabredet, und du weißt Bescheid. Ich kann da nicht schlau draus werden. Was mach ich denn jetzt, die will nicht gehen." - "Laß mich mal mit ihr reden." Richtig, es war die Frau Wrobel vom Pflegedienst "Für Sie". "Tach Frau Wrobel," sagte ich. Sie solle sich nicht vertreiben lassen. Und sie möchte bitte danach gucken, ob Schlüssel und Portemonnaie am richtigen Platz seien. Und Muddi fragen, ob was einzukaufen wäre. Oder Geschirr abzuwaschen. "Wie ich habe gefragt, ihre Mutter nur sagen, nein, nein, sie will das nix. Und Abfluß in Küche ist verstopft." - "Och, ist das wieder soweit?" tat ich unwissend. "Kennen Sie sich zufällig damit aus?" - "Herr Dicki, ich bin keine, wie sagt man, Installateur." - "Ja, nein, dann kümmer ich mich darum. Bleiben Sie jetzt erstmal da, ich komme in zehn Minuten. Geben Sie mir nochmal Muddi. - Muddi? Ich komm gleich mal rüber. Biete doch der Frau Wrobel - Wro-bel - nein, WRO - BEL - genau, biete ihr einen Kaffee an, ja? Bis gleich."

Das war zu erwarten gewesen, so oder ähnlich. Aber mit einer Polin als Betreuerin hätte ich doch eher nicht gerechnet. Weshalb hat mich der Pflegedienst nicht gefragt, ich hätte denen gleich sagen können, daß Muddi auf die Barrikaden geht. Multikulti ist Unsinn, da sieht man's wieder. Also muß ich als nächstes die Kleine-Delle anrufen, ob die nicht eine Deutsche schicken können. Zumindest jemanden, der richtiges Deutsch spricht, und ohne diesen slawischen Akzent. Überhaupt ohne Akzent. Eine Bremsche am besten.

"Da bin ich!" rief ich mit falscher Fröhlichkeit in den Flur. Der Schlüsselkasten war mal wieder komplett leer. - "Da bist du ja," ächzte Muddi und kam schwerfällig aus dem kleinen Zimmer. "Schick diese Person weg, ich will die hier nicht haben." Ich erinnerte sie an den Pflegevertrag, an die Verabredung, an die Betreuung, die sie braucht und nun endlich bekommt und die ihr guttun wird. "Ich brauch niemand, ich komm ganz gut alleine klar." Ob sie Frau Wrobel Kaffee angeboten habe? "Willst du Kaffee trinken?" - "Gerne. Und mach ein bißchen mehr, damit Frau Wrobel auch eine Tasse abbekommt." - "Dann mach du den Kaffee."

Frau Wrobel stand ungeduldig im kleinen Zimmer. "Tut mir leid, Frau Wrobel, aber jetzt kann ich sie unterstützen. Möchten Sie Kaffee?" - "Ich muß Arbeit machen, nix Zeit für Kaffee." Prima, dachte ich, da haben sich die Richtigen gefunden, eine beleidigter als die andere. "Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, sie gehen sofort, erstatten Bericht und ich spreche zusätzlich mit Frau Kleine-Delle, damit jemand anderes die Arbeit übernimmt. Die andere Möglichkeit: Sie setzen sich mit Muddi an den Tisch und versuchen, sich kennenzulernen; vielleicht hilft das." In ihrem Gesicht las ich, daß sie die Frage um und um wälzte, ob das eine Drohung sei. Sie willigte ein, kennenlernen, kaffeetrinken, gut, "kann versuchen." - Ja, gut.

Frau Wrobel war Profi genug, um ihrer Umhängetasche Papiere und einen Kuli zu entnehmen; mit diesem Anstrich von Autorität begann sie, Fragen zu stellen, und Muddi, nun doch ein bißchen eingeschüchtert, antwortete. Widerwillig, bockig, aber sie antwortete. Ich stahl mich hinaus in die Küche zum verstopften Abfluß. Eine Waschschüssel untergestellt und die Verschraubungen gelöst, das ging ruckzuck, eine jährlich wiederkehrende Verrichtung. Während ich eine zähe graue Masse aus dem U-Rohr herausprökelte und keuchend dem Fäulnisgeruch auszuweichen versuchte, dachte ich, wie traurig das sei: die Eltern mühen sich nach Kräften, den Kindern Vernunft beizubringen, und später entbehren sie selbst der Vernunft. Als Kind blickt man zu ihnen auf, als Erwachsener blickt man auf sie herab, aber es sind doch dieselben Menschen.

Nachdem der Pfropfen im Klo versenkt, der gereinigte Abfluß verschraubt und meine Hände gewaschen waren, gesellte ich mich zu den beiden Damen. Die Luft war zum Schneiden. Muddi fragte immer wieder nach und gab vor, nichts zu verstehen, die Wrobelsche war ziemlich gereizt. "Es hat wohl keinen Zweck," sagte ich, "danke, daß Sie es versucht haben. Ich werde mit Frau Kleine-Delle besprechen, wie es weitergeht. Und Sie erzählen ihr genau, was sie hier erlebt haben." - "Das werde ich tun. Das werde ich tun." Mit Applomb stopfte sie Kuli und Papiere in die Umhängetasche. "Auf Wiedersehen." - "Auf Wiedersehen." - Muddi sah mich triumphierend an und sagte mit spitzem Mund: "So eine Person!"

Der Mensch ist nicht geboren, um siebzig oder mehr Jahre alt zu werden und folgerichtig ereilen uns im Alter schwere Krankheiten; bleiben wir von diesen verschont, lassen auf jeden Fall die Körper- und Geisteskräfte nach. Kurzum, als alter Mensch wird man hilfsbedürftig und ist im allgemeinen froh, wenn Verwandte und ausgebildete Betreuer einem das Leben erleichtern und die Fährnisse tragen helfen. Aber auch nur im allgemeinen.

Bei manchen Menschen gilt: Verwandte ja, Fremde nein, und zwar mit Ausrufezeichen, fettgedruckt und dreifach unterstrichen. Die ersten Unzulänglichkeiten können durchaus amüsant sein, und man denkt: aha, nun wird er oder sie alt, wenn etwa dieselbe Geschichte dreimal innerhalb von zehn Minuten erzählt wird, oder wenn des öfteren der Vorwurf erhoben wird, man spreche undeutlich.

Muddi beispielsweise hatte immer Lavendel von ihrem Garten in der Wohnung, denn das hält die Fliegen fern. Bei einem Spaziergang zeigte ich auf eine Vielzahl Möwen und sagte: "Was machen denn die vielen Möwen hier?" Worauf Muddi sagte: "Hast du da Last mit? Ich hab immer Lavendel in der Wohnung, das mögen die nicht." Ich wies sie auf die Möwen hin, worauf sie meinte, sie habe Mücken verstanden. "Aber du sprichst manchmal auch so undeutlich." Möwen, Mücken, Fliegen - nun wird sie wirklich alt, dachte ich.

Später belächelt man die diversen Aussetzer nur noch selten, und irgendwann sagt man sich: nun braucht sie allmählich eine Betreuung. Gesagt, getan, erkundigt - alles kein Problem, außer daß die zu betreuende Person zustimmen muß. Und zustimmen wollte Muddi um keinen Preis, bzw. nicht um freundliche Worte und auch nicht um Ausschimpfen. Endlich hatte ich jemanden dazu gebracht, einen Hausbesuch zu machen. Wie es denn gewesen sei, fragte ich hernach. Oh, sie - also die Fachkraft - habe durchaus Bedarf an Betreuung erkennen können, aber Muddi habe gesagt, daß sie niemanden brauche, ihr Sohn mache das für sie. Hoppla! dachte der Sohn.

"Dicki" hat natürlich mit Dickschädel zu tun, und Dickschädel sind gewissermaßen erblich. Wie also mit Muddis Dickschädel umgehen? Den farbenfroh-freundlichen Beschreibungen einer zukünftigten Betreung fügte ich Überlegungen hinzu, daß ich auch mal dauerhaft verhindert sein könnte, durch Unfall oder durch Umzug, und was dann, es sei ja niemand sonst da. Aber nicht das sorgte sie, sondern daß sie nicht ständig jemanden um sich haben könne oder, ein andermal, daß sie keine Fremden in der Wohnung haben wolle, und, generell, "ich komme ganz gut alleine zurecht."

Zu der Zeit dieser Geplänkel hatte sie die Angewohnheit entwickelt, Dokumente und Wertsachen umzuräumen; von hier nach dort, von dort nach irgendwo, von irgendwo nach weißichnichtmehr, und das betraf auch ihre Schlüssel. Also sperrte sie sich mehrfach aus, hatte zeitweilig keinen, dann drei Schlüsselbünde, dann einen oder zwei; ihr Portemonnaie verschwand und tauchte auf und verschwand wieder; begleitet von Angstträumen und nachfolgenden Anrufen bei mir. Ich gewöhnte mich daran, ihr zu sagen, sie habe schlecht geträumt, wenn sie hochdramatische Geschichten von Gefangennahme, Raub und Prügel erzählte und unvermittelt sagte: "dein Vater ist auch noch nicht wieder zuhause, ich verstehe das nicht." Das verstand ich auch nicht, denn der gute Mann ist seit über dreißig Jahren tot und begraben.

Ich griff zu einer verzeifelten Lüge. Ich hätte ein Angebot aus Frankfurt und werde schon in Kürze aus Bremen wegziehen. Das trieb ihr zwar die Tränen in die Augen (sodaß ich meinen Schwindel sogleich bereute), hatte aber nur eine Trotzreaktion zur Folge: "Ich komm schon irgendwie zurecht, mach dir um mich keine Sorgen." Unterdessen hatte die oben erwähnte Fachkraft nochmal bei Muddi angerufen, sie wolle einen Besuch bei ihr machen. Das war Muddi nicht recht. "Ich hab ihr gesagt, sie könne mich nicht stoppen, ich sei schon auf dem Weg zu ihr. Als ich ein paar Minuten später bei ihr klingelte, hat sie nicht aufgemacht."

Da war ich bereit, alles auf eine Karte zu setzen. Anhand einer Fotokopie studierte ich Muddis Unterschrift ein, vereinbarte mit der Fachkraft einen Termin bei Muddi, die sich wie erwartet sträubte, und bat die Betreuerin Muddis in spe uns für eine Minute alleine zu lassen. "Guck mal," sagte ich zu Muddi, "du brauchst doch nur hier zu unterschreiben." Dabei deutete ich auf den Pflegevertrag. "Und zwar so." Gekonnt setzte ich ihren Schriftzug unter das Dokument. "Siehst du?" "Und jetzt?" fragte sie. "Jetzt lasse ich dich in Ruhe." Mit stolzgeschwellter Brust übergab ich der Fachkraft den unterschriebenen Vertrag, ein erster Besuchstermin wurde vereinbart, die Welt war voller Sonnenschein. Doch wie hatte ich glauben können, damit seien die Schwierigkeiten überwunden?! Es war im Gegenteil erst der Anfang, und ich sollte es nur allzubald erfahren.

 

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