1968
aus aller Welt
ballaballa
Beobachtungen in der Natur
charmsing
deutsche kenneweiss
Dicki TV
Dickimerone
Dickis Reisen
die kleine Anekdote
dirty old town
Empfehlung
Erwins Welt
Eugen
in eigener Sache
Java
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
icon

 
Heute bin ich in der glücklichen Lage, nicht selbst schreiben zu müssen. Und das kommt so:

Vor rund 25 Jahren, als ich in den Miniaturen Kurt Tucholskys Hinweise - Loblieder - auf Alfred Polgar fand, wollte ich unbedingt etwas von diesem Herrn lesen. Heute streifte ich durch eine dieser Teestuben für Geistsüchtige auf der Suche nach gutem Stoff, und da lag es vor mir, als Paperback, ein Schnäppchen gewissermaßen.

Alfred Polgar: 'Das große Lesebuch' (Zusammengetragen und mit einem Vorwort von Harry Rowohlt)

Erfreut nahm ich ein Exemplar in die Hand, schlug es auf, blätterte - und las die kurze Geschichte Bilder (von 1918).

Es ist ganz außerordentlich, wie sehr sich die Russen in letzter Zeit verschönt haben. Ihr Antlitz, ihre Haltung, ihre Insignien haben sich zum Bessern und Edlern gewandelt. Der Russe, einer der Todfeinde des deutschen Kaiserreiches und der k.u.k. Donaumonarchie? - Anhand der Karikaturen im Illustrierten Blatt liest Polgar den Kriegsverlauf ab bzw. den Verlauf von Friedensverhandlungen, sehnt den "holden Tag" herbei, da Amerikaner, Italiener, Franzosen und Engländer wieder normal aussehen werden (in den Karikaturen des Illustrierten Blattes), und ruft wann kommst du, holder Tag, da der deutsche Professor mit wallendem Vollbart, Röllchen, Vorhemd und gewölbter Heldenbrust aus feindlichen Zeitungen rückkehrt in seine Friedensheimstätte, in das deutsche Witzblatt?

Nun wollte ich das Buch unbedingt haben und kaufte es ohne Zögern. Wer Max Goldt schätzt, wird das Vorwort nicht ohne Herzklopfen lesen können. Einleitend erzählt Harry Rowohlt von einer Lesung, nach der ihn die Regionalpresse interviewte. Zum Schluß fragte sie: "Als letztes fällt mir nix mehr ein, deshalb noch folgende Frage. Tucholsky schrieb einmal: 'Was darf Satire? Satire darf alles.' Nun frage ich: Was kann Satire?" Ich sagte: "In der ARD-Boulevardsendung 'Brisant' habe ich gerade einen Bericht über die Beerdigung von Günter Pfitzmann gesehen. Satire kann, daß Pfitzmann sich ein Buch von Tucholsky hat in den Sarg legen lassen. Satire kann nicht, daß z.B. die öffentlich-rechtliche Berichterstatterin schon mal von Tucholsky gehört hat. Sie sagte nämlich, Pfitzmann habe sich ein Buch von Günter Tucholsky in den Sarg legen lassen." Und mit Tucholsky wären wir auch schon bei ... eben, eben, bei Alfred Polgar.

Rowohlt erzählt dann in Goldt'scher Manier von seinen Begegnungen mit Alfred Polgar usw. (und stellt Onkel Max in den Schatten), um schließlich aus dessen Theaterkritiken zu zitieren.

Selten bringt der Zufall etwas Dramatisches daher, das uns angenehm aufregt (angenehm, weil es die daneben betrifft, nicht uns selber), niemand auch kommt überraschend, läutet's zu ungewohnter Stunde, ist es der Gaskassierer oder ein Schnorrer, keine süße Nachbarin erscheint im Nachthemd, streichholzbedürftig, und gibt an, man nenne sie nur Mimi. Wie anders das Theater!

Nein, jetzt brauchen Sie nicht ins nächste Theater zu rennen. Bereits 1925 warnte Polgar vor dem "Regietheater", dabei war das noch längst nicht erfunden. (Und bereits 1995 schrieb ich ins Gästebuch vom FilmFest Braunschweig: "Autorenkino, Regietheater, Befreiungstheologie -: Alles genauson Quatsch wie mittelscharfer Senf.")

Lesen Sie erst mal, was jetzt gleich kommt. Und zwischendurch die Polgar-Biographie vom Weinzierl, dem wir nicht zuletzt zu verdanken haben, daß alles das, was jetzt gleich kommt, jetzt gleich kommt.


Ich lese.

(also bin ich)

 

twoday.net AGB

xml version of this page

powered by Antville powered by Helma