1. Eine Busladung Deutsche
Alassio im August 1993, eine "Fahrt ins Blaue" für deutsche Urlauber. Mit an Bord ein älterer Entertainer, Italiener, in Alassio ansässig. Beim letzten Halt vor der Rückfahrt trinkt der Herr (gezielt, wie mir später klar wird) zuviel Wein, um während der Heimkehr zum Hotel die "Alemanni" mit schmuddeligen Geschichten über das schlechte Deutsch und die Primitivität der italienischen Gastarbeiter zu unterhalten. Die Touristen johlen ein ums andere Mal. "Was der für eine Phantasie hat," sagt Muddi zu Vaddi, direkt vor mir sitzend. Ich staune, denn zum einen waren ständig ähnliche Geschichten - über Türken, Ossis, Amis, Eskimos undichweißnichtwennoch - in Umlauf, zum andern erschöpfte sich der Witz in Ferkelei und Herabminderung, und schließlich ist es eine schmierige Anbiederung, seine Landsleute den Vorurteilen anderer zum Fraß vorzuwerfen. Kann die deutsche Volksseele nur herablassend über "Minderwertige" lachen und niemals freundlich auch über sich selbst, ist ihr Häme statt Heiterkeit zu eigen?
2. Der Erlöser
Harald Schmidt fand ich immer doof, wunderte mich, daß so viele Leute ihn lobten, und ignorierte ihn nach Kräften. Jetzt darf ich ihn nicht einmal mehr ignorieren. Die Zeitungen, was sage ich, die Medien sind voll von Harald Schmidt und über ihn voll des Lobes. Spiegel Online machte den Vorreiter, in der Tagesschau wurde - mit Zitaten und Ausschnitten - für die Sendung geworben, und heute morgen strömte mir die totale Lobhudelei auch aus meiner Zeitung entgegen, woraus ich schließe, daß heute auch das allerletzte Presseerzeugnis "Schmidt! Schmidt! Schmidt!" rief.
"An den Erlöser hat man keine Erwartungen," sagte einer aus dem Studiopublikum. Daß Fernseh-Deutschland Schmidt "zitternd zu Füßen lag", sudelt ein Schreiberling. "So groß die Ehrfurcht vor einem Mann, der sich die Freiheit nimmt zu sagen, was er denkt." Denkt der denn überhaupt, frage ich mich. Und weshalb mögen wohl die vielen Menschen, die sich die Freiheit nehmen zu sagen, was sie denken, und dabei wirklich komisch und geistvoll sind, nicht die Freiheit haben, dies unter dem vereinten Lobgesang der Journaille via TV in die Wohnstuben hineinzutröten? Weshalb wird Harald Schmidt als humorvoll und intelligent, sogar als Bewahrer der kulturellen Werte des Abendlandes gepriesen?
3. Deutsche Tugend Gleichschritt
Wer noch nicht aufgehört hat, diesen Gegenruf zu lesen, wird es gleich tun. - Es liegt viele Jahre zurück, daß Politik, Wirtschaft und Medien sich einig waren: die Demonstration gegen das Atomkraftwerk Brokdorf (am 19.2.1977), gehörte verboten, dort seien Krawall, Aufruhr, gezielte und verfassungswidrige Gewalt geplant, Berufsrandalierer wollten hier ihr Süppchen kochen und so weiter und so fort. Eine Hetzkampagne unisono, wie sie die bundesdeutsche Demokratie noch nicht erlebt hatte. Gegenstimmen waren nicht zugelassen und wurden gleich in die Nähe des Terrorismus gerückt. Erst seit kurzem erleben wir wieder diese Einstimmigkeit: die Sozialgesetzgebung muß "reformiert" werden, um den Sozialstaat zu retten. Gegenstimmen sind unerwünscht und werden per Diffamierung abgebügelt.
Es ist mir also nicht von ungefähr verdächtig, wenn sich die Medien einig sind, wenn keine kritischen Stimmen ertönen, wenn eine Diskussion - die doch eines der ganz wichtigen Merkmale der Demokratie sein soll - nicht stattfindet. Ältere Menschen wird ob dieser Einstimmigkeit ein mulmiges Gefühl beschleichen: da war doch was, da gab es doch einmal vor langer Zeit ...
4. Tatort Schreibtisch
Wenn bei Loriot ein Schreibtisch vorkam, bestand ein Teil der Komik darin (und wurde vom Publikum der 70er Jahre intuitiv verstanden), daß die Person hinter diesem Symbol der Macht sich durch Unzulänglichkeit auszeichnete. Arbeiter wie Angestellte kennen die Beklemmung, wenn sie "ins Büro" zitiert werden, um vor dem Schreibtisch stehend eine Demütigung durch den hinter dem Schreibtisch Sitzenden erdulden zu müssen. Und wehe, wenn der sich auch erhebt! Am Schlimmsten, wenn der Chef auch noch "humorig" ist, dann muß man sich obendrein verspotten lassen. Komik aus der Sicht der Chefs ist nicht komisch, sondern Machtausübung. Damit kann ich mich nicht identifizieren.
Wer geduckt lebt, träumt von Macht, ist bereit, sich mit Macht zu identifizieren, wartet darauf, daß seine mickrigen Vorurteile bestätigt werden, seine häßlichen Worthülsen die Erlaubnis erhalten, auf die Sündenböcke niederprasseln zu dürfen. Und sitzt folgerichtig mit Harald Schmidt HINTER dem Schreibtisch und verhöhnt und verlacht und kommt sich geistreich vor. - Hella, der ich hier etliche Anregungen verdanke, zitierte gestern aus einem Forum von Schmidt-Fans, stellvertretend für viele ähnliche Äußerungen nach dem Abschied Schmidts vor einem Jahr: "Wo bekomme ich denn nun meine tägliche Portion Humor her?" Humor bekommt man nicht geliefert, Humor hat man - oder eben nicht.
5. Führerkultur
Deutsche Männer, besonders die "Intellektuellen", beten Schmidt an. "Zweimal wöchentlich (...) wird der Erlöser seine Messe halten. (...) Schmidt pur, die volle Ladung. Halleluja!" Ihn, der sich die Freiheit nimmt zu sagen, was er denkt (wenn er denn denkt), haben sie zu ihrem Führer erkoren: er gibt ihnen die Rechtfertigung und die Erlaubnis, voller Häme, dummdreist und von moralischen Bedenken befreit über andere Menschen herzuziehen. Es ist ja nur ein Witz! werden sie rufen, wenn sie mit Beleidigung und Verächtlichmachung Andere verletzt haben. Wie könne man nur so humorlos sein. - Der deutschen Volkseele, so scheint mir, ist die Häme zu eigen, und sie wartet nur auf die Erlaubnis, sie von der Kette lassen zu dürfen. Aber vielleicht sind die Menschen, die in dieser so modernen Zeit nicht zu Wort kommen, aus besserem Holz geschnitzt. Jedenfalls habe ich das Glück Einige zu kennen, die sich nicht (ver)führen lassen.
6. Pro Schmidt
Angesichts der Idolisierung fällt es mir schwer, Harald Schmidt nicht mit seinem Publikum in einen Topf zu werfen. Ich kenne die "Lustigkeit" der Deutschen, kenne einige Schmidtianer, kenne deren geistiges Niveau und ekle mich vor den öffentlichen Lobhudlern. Schmidt dagegen kenne ich kaum: einige dumme Bemerkungen, die Witz sein sollen, einige Fotos, die ihn mir unsympathisch sein lassen. Ich werde weiterhin versuchen, ihn zu ignorieren: hoffentlich läßt man mich. Die Geschehnisse um ihn herum finde ich in hohem Maße alarmierend. Wenn das die "deutsche Leitkultur" sein soll, werden uns bald noch ganz andere Leithammel den Weg weisen. Und die Menge wird johlen wie einst im Sportpalast.Oder?

Alassio im August 1993, eine "Fahrt ins Blaue" für deutsche Urlauber. Mit an Bord ein älterer Entertainer, Italiener, in Alassio ansässig. Beim letzten Halt vor der Rückfahrt trinkt der Herr (gezielt, wie mir später klar wird) zuviel Wein, um während der Heimkehr zum Hotel die "Alemanni" mit schmuddeligen Geschichten über das schlechte Deutsch und die Primitivität der italienischen Gastarbeiter zu unterhalten. Die Touristen johlen ein ums andere Mal. "Was der für eine Phantasie hat," sagt Muddi zu Vaddi, direkt vor mir sitzend. Ich staune, denn zum einen waren ständig ähnliche Geschichten - über Türken, Ossis, Amis, Eskimos undichweißnichtwennoch - in Umlauf, zum andern erschöpfte sich der Witz in Ferkelei und Herabminderung, und schließlich ist es eine schmierige Anbiederung, seine Landsleute den Vorurteilen anderer zum Fraß vorzuwerfen. Kann die deutsche Volksseele nur herablassend über "Minderwertige" lachen und niemals freundlich auch über sich selbst, ist ihr Häme statt Heiterkeit zu eigen?
2. Der Erlöser
Harald Schmidt fand ich immer doof, wunderte mich, daß so viele Leute ihn lobten, und ignorierte ihn nach Kräften. Jetzt darf ich ihn nicht einmal mehr ignorieren. Die Zeitungen, was sage ich, die Medien sind voll von Harald Schmidt und über ihn voll des Lobes. Spiegel Online machte den Vorreiter, in der Tagesschau wurde - mit Zitaten und Ausschnitten - für die Sendung geworben, und heute morgen strömte mir die totale Lobhudelei auch aus meiner Zeitung entgegen, woraus ich schließe, daß heute auch das allerletzte Presseerzeugnis "Schmidt! Schmidt! Schmidt!" rief.
"An den Erlöser hat man keine Erwartungen," sagte einer aus dem Studiopublikum. Daß Fernseh-Deutschland Schmidt "zitternd zu Füßen lag", sudelt ein Schreiberling. "So groß die Ehrfurcht vor einem Mann, der sich die Freiheit nimmt zu sagen, was er denkt." Denkt der denn überhaupt, frage ich mich. Und weshalb mögen wohl die vielen Menschen, die sich die Freiheit nehmen zu sagen, was sie denken, und dabei wirklich komisch und geistvoll sind, nicht die Freiheit haben, dies unter dem vereinten Lobgesang der Journaille via TV in die Wohnstuben hineinzutröten? Weshalb wird Harald Schmidt als humorvoll und intelligent, sogar als Bewahrer der kulturellen Werte des Abendlandes gepriesen?
3. Deutsche Tugend Gleichschritt
Wer noch nicht aufgehört hat, diesen Gegenruf zu lesen, wird es gleich tun. - Es liegt viele Jahre zurück, daß Politik, Wirtschaft und Medien sich einig waren: die Demonstration gegen das Atomkraftwerk Brokdorf (am 19.2.1977), gehörte verboten, dort seien Krawall, Aufruhr, gezielte und verfassungswidrige Gewalt geplant, Berufsrandalierer wollten hier ihr Süppchen kochen und so weiter und so fort. Eine Hetzkampagne unisono, wie sie die bundesdeutsche Demokratie noch nicht erlebt hatte. Gegenstimmen waren nicht zugelassen und wurden gleich in die Nähe des Terrorismus gerückt. Erst seit kurzem erleben wir wieder diese Einstimmigkeit: die Sozialgesetzgebung muß "reformiert" werden, um den Sozialstaat zu retten. Gegenstimmen sind unerwünscht und werden per Diffamierung abgebügelt.
Es ist mir also nicht von ungefähr verdächtig, wenn sich die Medien einig sind, wenn keine kritischen Stimmen ertönen, wenn eine Diskussion - die doch eines der ganz wichtigen Merkmale der Demokratie sein soll - nicht stattfindet. Ältere Menschen wird ob dieser Einstimmigkeit ein mulmiges Gefühl beschleichen: da war doch was, da gab es doch einmal vor langer Zeit ...
4. Tatort Schreibtisch
Wenn bei Loriot ein Schreibtisch vorkam, bestand ein Teil der Komik darin (und wurde vom Publikum der 70er Jahre intuitiv verstanden), daß die Person hinter diesem Symbol der Macht sich durch Unzulänglichkeit auszeichnete. Arbeiter wie Angestellte kennen die Beklemmung, wenn sie "ins Büro" zitiert werden, um vor dem Schreibtisch stehend eine Demütigung durch den hinter dem Schreibtisch Sitzenden erdulden zu müssen. Und wehe, wenn der sich auch erhebt! Am Schlimmsten, wenn der Chef auch noch "humorig" ist, dann muß man sich obendrein verspotten lassen. Komik aus der Sicht der Chefs ist nicht komisch, sondern Machtausübung. Damit kann ich mich nicht identifizieren.
Wer geduckt lebt, träumt von Macht, ist bereit, sich mit Macht zu identifizieren, wartet darauf, daß seine mickrigen Vorurteile bestätigt werden, seine häßlichen Worthülsen die Erlaubnis erhalten, auf die Sündenböcke niederprasseln zu dürfen. Und sitzt folgerichtig mit Harald Schmidt HINTER dem Schreibtisch und verhöhnt und verlacht und kommt sich geistreich vor. - Hella, der ich hier etliche Anregungen verdanke, zitierte gestern aus einem Forum von Schmidt-Fans, stellvertretend für viele ähnliche Äußerungen nach dem Abschied Schmidts vor einem Jahr: "Wo bekomme ich denn nun meine tägliche Portion Humor her?" Humor bekommt man nicht geliefert, Humor hat man - oder eben nicht.
5. Führerkultur
Deutsche Männer, besonders die "Intellektuellen", beten Schmidt an. "Zweimal wöchentlich (...) wird der Erlöser seine Messe halten. (...) Schmidt pur, die volle Ladung. Halleluja!" Ihn, der sich die Freiheit nimmt zu sagen, was er denkt (wenn er denn denkt), haben sie zu ihrem Führer erkoren: er gibt ihnen die Rechtfertigung und die Erlaubnis, voller Häme, dummdreist und von moralischen Bedenken befreit über andere Menschen herzuziehen. Es ist ja nur ein Witz! werden sie rufen, wenn sie mit Beleidigung und Verächtlichmachung Andere verletzt haben. Wie könne man nur so humorlos sein. - Der deutschen Volkseele, so scheint mir, ist die Häme zu eigen, und sie wartet nur auf die Erlaubnis, sie von der Kette lassen zu dürfen. Aber vielleicht sind die Menschen, die in dieser so modernen Zeit nicht zu Wort kommen, aus besserem Holz geschnitzt. Jedenfalls habe ich das Glück Einige zu kennen, die sich nicht (ver)führen lassen.
6. Pro Schmidt
Angesichts der Idolisierung fällt es mir schwer, Harald Schmidt nicht mit seinem Publikum in einen Topf zu werfen. Ich kenne die "Lustigkeit" der Deutschen, kenne einige Schmidtianer, kenne deren geistiges Niveau und ekle mich vor den öffentlichen Lobhudlern. Schmidt dagegen kenne ich kaum: einige dumme Bemerkungen, die Witz sein sollen, einige Fotos, die ihn mir unsympathisch sein lassen. Ich werde weiterhin versuchen, ihn zu ignorieren: hoffentlich läßt man mich. Die Geschehnisse um ihn herum finde ich in hohem Maße alarmierend. Wenn das die "deutsche Leitkultur" sein soll, werden uns bald noch ganz andere Leithammel den Weg weisen. Und die Menge wird johlen wie einst im Sportpalast.

Dicki - am Mo, 27. Dezember 2004, 20:43 - Rubrik: deutsche kenneweiss
hweblog meinte am 27. Dez, 23:47:
Ganz vereinzelt regt sich Widerstand gegen den größten Moderator aller Zeiten (GröMaz), bisher aber nur in Österreich. Ich zitiere aus derstandard.at: [1]
Offenbar völlig verblödet, kritiklose Schwachköpfe all jene, die Spaß mit der gestrigen Geldvernichtungsmaschine hatten
[2]
Irgendwie freue ich mich
dass dir die show nicht gefallen hat.
Danke
*******
Berichtigung: Ich habe den Unterzeichner No. 37 der vor einem Jahr gestarteten Online-Petition gegen die Absetzung der HASS-Show zitiert. Wörtlich schrieb er: ohne harald schmidt ? wo soll ich dann meine portion humor vor dem schlafen gehen herbekommen? vom raab sicher nicht ...
Dicki antwortete am 28. Dez, 13:28:
Danke für den GröMaZ, danke auch für das exakte Zitat. Eine weitere Berichtigung ist fällig: die Werbung wurde nicht in der Tagesschau beobachtet. (Jetzt gehts ab wie bei Radio Eriwan) Es handelte sich offenbar auch nicht um einen Fernsehsender. Vielmehr wurde auf NDR-Info für Schmidt gehudelt und Ausschnitte aus seiner Sendung gebracht: als Hörspiel sozusagen, im Radio. [Im Prinzip stimmt es, daß der Genosse Juri Gagarin aus Moskau in der staatlichen Lotterie ein Auto gewonnen hat, allerdings handelt es sich um den Genossen Igor Gagarin, der in Novosibirsk lebt, und leider hat er kein Auto im Spiel gewonnen, sondern vor dem dortigen Postamt ein Fahrrad gestohlen.]
The Peeliever antwortete am 30. Dez, 05:23:
Mit der o.g. Berichtigung hatt' ich anfangen wollen; aber vor lauter Groll hab ichs vergessen. - Daß NDR in einem Nachrichtenmagazin gehudelt hat wie (so erfuhr ich wenig später) vorher schon der WDR an gleicher Stelle, sollte im übrigen niemanden wundern; denn die ARD-Sender müssen nun einmal für ihre Produkte werben, speziell für so teure wie s.o. Und warum auch nicht? Was den Politikern recht ist - Parteiwerbung in den Nachrichten -, das kann der Unterhaltungsbranche nur billig sein. So viel für heute zum Demokratiefstand unserer Medien.