1968
aus aller Welt
ballaballa
Beobachtungen in der Natur
charmsing
deutsche kenneweiss
Dicki TV
Dickimerone
Dickis Reisen
die kleine Anekdote
dirty old town
Empfehlung
Erwins Welt
Eugen
in eigener Sache
Java
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
icon

 
Nachdem sie sich anderntags notdürftig hergerichtet hatten, begaben sich König Abgus und Ritter Ohwein auf die Suche nach weiteren Gesellen. Die Sonne hatte eben den Zenit überschritten, als die Beiden ein Dorf erreichten, in dem der blanke Aufruhr herrschte. Eine Rotte Bauern, mit Mistgabeln und Eichenknütteln bewaffnet, bedrängte drei Individuen, die mit einer Lanze, einem Schwert und einem Morgenstern bewaffnet sich die Meute notdürftig vom Leibe hielten. Ihre Lage war aussichtlos und sie würden kaum noch eine Viertelstunde standhalten können. König Abgus rief empört: "Dreißig gegen Drei, das ist wie - äh - " - "Zehn gegen Einen", half Ritter Ohwein aus. - "Was geht hier vor?"

"Oh Ihr Herren, helft uns", bat der Größte der Drei. "Wir haben diesen Undankbaren versprochen, sie gegen Räuber und Banditen zu beschützen, wenn sie uns Weizen für ein Jahr, zehn Stück Vieh und ein bißchen Wildbret geben wollten und haben Wort gehalten; nun behaupten diese Schändlichen, die Ernte sei verdorben, das Vieh tot und das Wildbret des Königs." - "Räuber sind sie!", ertönte es aus der Bauernschar, "Diebe! Erpresser!" - "Da hört Ihr es selbst aus dem Munde der Vertragsbrüchigen. So helft uns doch!"

Weder König Abgus noch Ritter Ohwein zögerten auch nur eine Sekunde, den Hilfesuchenden beizustehen. Gemeinsam mit den Dreien, die sich hernach als Mordbret, Pansefahl und Ganzenot vorstellten, verdroschen sie die Bauern nach Strich und Faden und verließen das Dorf im Triumphzug, zwei Wagenladungen Korn, zwölf Rinder und eine Schar Gänse mit sich führend. Freudig nahmen die Geretteten die Einladung zu König Abgus' Tafel an.

"Welch eine Beglückung", dachte König Abgus, "daß die guten Traditionen doch noch lebendig sind. Sieben weitere solcher Edelmänner vom alten Schrot und Korn, dann werden wir die Welt verändern." Sie kehrten in die nächste Schenke ein und kosteten die Gunst der Stunde bis zum letzten Tropfen aus. Der Wirt ließ sie unterm Tische schlafen, wie sie hingefallen waren.

Jetzt kam mir der Gedanke, einen Autorenservice einzurichten: Erzählmodule für wenig Geld. Ein Beispiel. Nicht jedem ist es gegeben, Treppenhäuser zu beschreiben. Weshalb also nicht eine Reihe verschiedenster Treppenhausbeschreibungen verfassen; Treppenhäuser in Mietskasernen, Hochhäusern, Hotels unterschiedlicher Kategorien, Parkhäusern, Villen, Ruinen, Ämtern, ja, auch der Treppenaufgang der ehemaligen Bedürfnisanstalt am Domshof könnte hier Wiederauferstehung feiern.

Natürlich würden sich die Autoren - und nicht nur die jüngeren - darauf stürzen und plötzlich spielten alle wichtigen Szenen in Treppenhäusern, von der Zeugung bis zum Tod. Ein ganz neues Genre würde entstehen, das des Treppenhausromans. Ähnlich könnte es mit Bahnsteigen, Fußgängerampeln, Wetterstationen und Altglascontainern ablaufen.

Endlich könnte mit der Sprache wie mit Programmierung umgegangen werden. Der studierte Literatiker (Bachelor) bindet die Bibliothek "Treppenhaus" ein, wählt die von ihm gewünschte Objektklasse aus, und schon knarrt die dritte Stufe der alten Holztreppe unter dem ungeduldigen Tritt des heimlichen Besuchers von Fräulein Manteuffel - aber nein, damit wären wir schon wieder mitten im veralteten Schriftstellertum. Auch die Menschen, das Leben, die Natur und überhaupt alles müßte vorgefertigt sein.

"Novelle 2.5", könnte es dann heißen, "kombiniert das Easy-Handling von WYSIWYG mit von den besten Text-Module-Writern verfassten Szenarios. Klicken Sie den Roman Ihres Lebens zusammen!" - Ich zucke zusammen, als das Telefon klingelt: "Spreche ich mit Herrn Dicki, Herrn Der wahre Dicki? Sie dachten doch sicher auch schon einmal an eine Karriere als Schriftsteller: wie würde es Ihnen gefallen, wenn ..." - Weckt mich bitte jemand auf? Das muß doch ein schlechter Traum sein. Weshalb klingelt der Wecker nicht, treibt mich kein Harndrang aus dem Bett, lärmen keine Handwerker zur Unzeit???

Quoth the raven, "Nevermore".

M., der Künstlerinnenexgatte, bekennt, daß er "so eine Art Assi" sei; er habe Bilder gerahmt und mitaufgehängt und "ach du Jeh". Gerade will ich ihm erzählen, wie ein Streitsüchtiger uns auf dem Weg zur Ausstellung hat anpöbeln wollen, da bin ich an der Reihe, von der Künstlerin umarmt zu werden; sie habe in letzter Zeit soviel zu tun gehabt, aber wir hätten uns ja unterwegs gesehen - genau, da habe ich ihr zurufen müssen, weil sie irgendwie immer schon hundert Meter voraus sei, Tunnelblick oder so - oh, das sei ihr mehrfach passiert, immer in Gedanken versunken (immerzu die schweren Gedanken).

Zuerst spricht die Kulturverantwortliche des Cafes, in dem die Exponate aufgehängt sind, zu den geladenen Gästen. Sie dankt der Künstlerin, aber auch der nun eine Laudatio halten wollenden Künstlerkollegin. Diese dankt der Kulturverantwortlichen, dem Cafe und der Künstlerin, sagt Verschiedenerlei über die Exponate und dankt noch einmal der Künstlerin, die sich ihrerseits bei der Künstlerkollegin bedankt sowie bei allen, die zu der Ausstellung beigetragen haben sowie bei allen geladenen Gästen, die so zahlreich erschienen sind sowie bei dem nachfolgenden Redner von einer städtischen Institution, der sich - man ist gut erzogen - bei allen Vorrednerinnen bedankt, und dem die geladenen Gäste dankbar wären, wenn er nicht nur frei, sondern auch fließend reden wollte.

Nun können die Exponate besichtigt werden; vier im Foyer, drei im Wintergarten, sechs im Flur des Kellergeschosses und fünf im Cafe selbst. Das Neunzehnte, eine getrimmte Biographie, hängt neben der Treppe die hinunterführt, was man nicht überinterpretieren sollte. Die geladenen Gäste gehen die Fotostrecke ab, wie man heute sagt. Im Cafe sitzen Leute und wundern sich über uns Bildbetrachter, die wir ein wenig distanzlos nahe an die Tische herantreten, woran sie sitzen. Zwei Frauen schauen auf und sagen entschieden undankbar, daß sie schon überlegt hätten, die Bilder abzuhängen. Vielleicht ist es auch nicht so angenehm, im Gespräch von Gaffern unterbrochen zu werden, die beinahe mit der Gürtelschnalle gegen die Kaffeetassen stoßen, doch kann mich Kunstbeflissenen die Unbotmäßigkeit der Situation nur amüsieren.

Dankbar oder nicht, ein Teil der geladenen Gäste verlässt den Event, die Künstlerin gibt sich in einem eher familiären Kreis der Kunstbegeisterung hin und Frau P. und ich erzählen uns was von unseren Muddis. Frau P. hat der ihren kein solches Grabmal gesetzt, wie es auf den Exponaten zu besichtigen ist, aber sie hat ihre Muddi gewissermaßen in Fleisch und Blut verinnerlicht, und was ist dagegen eine in Stein gehauene Skulptur? Die Rose von einst, sie ist nicht mehr, geblieben ist nur die Erinnerung - und möge diese lebendig sein.

Vielleicht hätte Frau P. die Laudatio halten sollen. Sie würde daran erinnert haben können, daß, bevor die Ästhetik dieser abfotografierten Kunstwerke sein konnte, Schmerz und Leid erlebt werden mussten, und dafür wäre manch geladener Gast dankbarer gewesen als für das gedankenlose Gedanke.

Bei dem ersten Freudenruf hatte ich mein Bedenken verschwiegen, ob es Selma Lagerlöf gelingen werde, den großen Bogen, den zu spannen sie im Begriff stand, auch zu Ende zu führen. Während der letzten hundert Seiten fanden die Zweifel Nahrung: die verschlungene, aber kontinuierlich geführte Handlung nahm anekdotische Züge an, Zeitsprünge mehrten sich und es schien, als sollte aus dem geschickt verwirrten Knoten kein geordnetes Gewebe, sondern eine Anzahl hübsch aufgereihter Fädchen werden. Doch schließlich brachte sie alle Stränge zusammen, schloß mit dem alten Familienfluch ab und schaffte es, ein offenes Ende zu gestalten, das dennoch mit Recht ein Schluß genannt werden kann. Oder will ich es jetzt nur so nennen? Denn soeben lese ich, daß ein vierter Teil der Löwenskölds geplant war ...

Ein gut geschriebenes Buch, eine Tragikomödie voller Lebensklugheit, interessante Charaktere, deren Entwicklung immer folgerichtig ist - und noch habe ich die Schilderungen nicht in ihrer ganzen Tiefe erfasst. Dies ist eines der Bücher, die ich mit Genuß und Gewinn auch ein zweites Mal (und wer weiß, vielleicht noch öfter) lesen werde. Ich empfehle es, weil (wie bereits gesagt) Selma Lagerlöf erstens eine kluge Frau ist, zweitens eine kluge Frau, die gut schreibt, und drittens eine kluge Frau, die gut schreibt und die den Schalk im Nacken hat. Letztere Eigenschaft kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

König Abgus war schon mehrere Wochen unterwegs und keiner der Edelleute, denen er begegnete, hatte seinen Ansprüchen genügt, als plötzlich in einem dunklen Waldstück ein nachlässig gekleideter Bursche von wohl dreißig Jahren vor sein Pferd sprang, mit einem hölzernen Schwert fuchtelte und, zwei Reihen verfärbter und brüchiger Zähne entblößend, rief: "Wie wenig es auch immer sein mag, das Ihr zu geben habt, es ist mir alles willkommen!" - "Das ist wahre Bescheidenheit", sagte König Abgus und fragte: "Seid Ihr von edler Abstammung?" - "Das will ich meinen", sagte der Bursche. "Meine Abstammung ist so edel wie sie nur sein kann. Meine Mutter hatte an ihrem Busen Platz für zwölf Kinder und ebensoviele Väter." - "Das ist wahre Nächstenliebe", begeisterte sich König Abgus. "Wie ist Euer Name?" - "Das kommt darauf an, wen Ihr fragt. Hier im Walde werde ich Edelzwicker gerufen, in der Stadt heiße ich Edler vom Weinschlauch."

König Abgus war nun überzeugt, seinen Mann gefunden zu haben. "Edler vom Weinschlauch, wollt Ihr mich begleiten und in der Tafelrunde ausgesuchter Ritter zu meiner Rechten sitzen, als mein erster und bester Edelmann?" - "Tafelrunde gefällt mir", bekannte der Bursche, "das klingt nach regelmäßigem Essen und Trinken. Aber wer seid Ihr, werter Herr, daß ihr beliebt, meinem Überfall zum Trotze Einladungen auszusprechen?" - "Ich bin kein anderer als König Abgus", sagte König Abgus. - "Wer's glaubt, wird selig", sagte der Bursche. - "Das ist wahrer Glaube; kommt an meine Brust!" rief König Abgus voll Entzücken. Diesem Beweis allerhöchster Vertrauensseligkeit mochte sich Edelzwicker oder Edler vom Weinschlauch nicht widersetzen und folgte willig und ergeben seinem neuen Herrn, der ihn der Kürze halber Ritter Ohwein rief und ihn zur Feier der denkwürdigen Begegnung in die nächste Schenke einlud, wo sie ein Herz und eine Seele wurden und zuguterletzt das Bett - eine harte Wirtshausbank - miteinander teilten.

 

twoday.net AGB

xml version of this page

powered by Antville powered by Helma