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Die einzige freie Wand meines Wohnzimmers habe ich mit Zertifikaten tapeziert; Zertifikate von Fort- und Um- und Ausbildungen sowie Maßnahmen diverser Institute, bewilligt von Arbeitsamt und -agentur, BaGIS und jobcenter. Darüber hängt der von einer Freundin mit Liebe und Humor bestickte Schal, der das Motto "Für zwölf Zertifikate gibt's eine Arbeitsstelle" verkündet. Meine Bildungskarriere, an sich makellos, ist hier und da von mehrjährigen Festanstellungen unterbrochen, aber dennoch ist offensichtlich, daß mir Lehrgänge jedwelcher Art keine Mühe bereiten und ich ein Leben lang dazugelernt habe, wenn nicht in einem Kurs, dann bei der Arbeit und durch die Arbeit (privat sowieso, aber das ist allein meine Sache). Dennoch blieb mir jetzt, da ich eine längere Ausbildung antreten will, die obligatorische psychologische Begutachtung, ob ich denn geeignet, willens und fähig bin, eine solche Ausbildung durchzustehen, nicht erspart.

Das setzte sich aus Vorgespräch, Test und Nachbesprechung zusammen. Der Test war ein handelsüblicher "Intelligenztest", wie es ihn seit den frühen Siebzigern gibt (oder noch früher), also die üblichen Aufgaben aus Bruch- und Dezimalrechnung, Zahlenreihen, Geometrie, Mustererkennung, sprachlicher Logik, und, zusätzlich, einem Englischtest. Nichts also, bei dem eigentliches Denken und wirkliche Intelligenz erforderlich wären. Der mathematische Teil war auf dem Niveau der siebten, allenfalls achten Klasse Gymnasium, der Sprachteil hatte mit Logik, aber nicht mit Sprache zu tun, die Mustererkennung war teilweise schwer, der Gedächtnistest eine Quälerei, aber die Wortergänzungen in englischen Texten ergaben sich praktisch von selbst.

Deshalb war ich überrascht, als mich die Psychologin in der Nachbesprechung als "Hochbegabten" einstufte, ich war allerdings begabt genug, ihr nicht zu widersprechen. Sonst hätte ich gesagt, daß ich vor mehr als fünfzehn Jahren einen ähnlichen, aber anspruchsvolleren Test absolvieren mußte, und vor allem: daß ich nicht hochbegabt, sondern intelligent sei. Nein, ich war vorsichtig, denn schon im Vorgespräch wurde mir klar, daß ich beispielsweise nicht einfach über die voraussichtliche Dauer - fünf Stunden! (es waren dann zweieinhalb) - stöhnen konnte: "weshalb beunruhigt sie die Dauer?" Nein, ich war spontan und offen, und habe dahinter jegliche tiefere Regung und Überlegung versteckt. Ja, die Zeiten haben mich lügen gelehrt.

Es ist heute so, daß du verdächtig bist, wenn du aus der Normalität herausragst, besonders, wenn du dich positiv abhebst. Die - durchaus freundliche - Dame wies mich darauf hin, daß ich in fast jedem Einzeltest außerhalb der Gaußschen Normalverteilung läge und fragte nach Familie und sozialen Kontakten, da ich wohl ein Außenseiter sein müsse. Das ist richtig, aber auch falsch, denn mit ganz normalen Menschen kann ich mich ganz normal unterhalten; ich fühle mit, denke mit und rede mit, wenn sich's irgendwie machen läßt. Im Gegenteil denke ich, daß das schulische Niveau arg nachgelassen hat und das geistige Niveau meiner Zeitgenossen, besonders der Jüngeren, erschreckend ist. Hochbegabt, my foot!

Interessant ist mir bei der ganzen Angelegenheit noch, daß an die Stelle von Menschenkenntnis genormte Pseudopsychologie gesetzt wird. Für die involvierten Psychologen ein Quell gesicherter Einnahmen. Für die Menschheit hingegen - na, lassen wir's. Weiß doch inzwischen jedes aufgeweckte Kind, daß die Werte der "freien Welt" auf steuerbegünstigten Bankkonten kumulieren. Und beinahe hätte ich geschrieben: kopulieren. Denn unsere "moderne" Welt empfinde ich als obszön.
pathologe meinte am 19. Nov, 08:20:
Offensichtlich
wird auch die Gauß'sche Normalverteilung von der Inflation geistiger Werte nicht ausgelassen. Wir lehren unsere Kinder langsam an amerikanische Verhältnisse hin: es gibt nur uns und unsere Begehrlichkeiten auf diesem Planeten, was wir wissen, ist das Nonplusultra, dazu einen geradezu übersinnlichen Anteil an gesunder Selbstüberschätzung.

Da ist für Außenseiter wie Sie und mich, die noch durch antiquarische Schulsysteme gingen, leider kein Platz mehr. 
Dicki antwortete am 20. Nov, 00:40:
Lieber Pathologe, ich danke für den Zuspruch, gehe gedanklich aber noch viel weiter. Was sage ich: gedanklich? Meine Beschäftigung mit den Phöniziern, deren Zeit und den Menschen dieser Zeit hat mir erst deutlich gemacht, wieviel wir - also die Menschheit - in der jüngeren Vergangenheit verloren haben, und ich bin in tiefer Trauer. Eine Andeutung des Lebens der damaligen Menschen läßt interessanterweise Pier Paolo Pasolini in seinem Film "1001 Nacht" lebendig werden. Unsere Moderne hat nicht unbedingt mehr Schrecken, aber ganz gewiß weniger Menschlichkeit. Und in nicht allzu ferner Zukunft werden Maschinen darauf programmiert sein, über deine und meine Normalität zu befinden - bis zur letzten Konsequenz. Nicht zuletzt deshalb herzliche Grüße! 
 

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