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Beobachtungen in der Natur

Ein junger Mann mit dunkelbrauner Haut wurde vom Kassierer zurückgerufen: ob er bitte in die Umhängetasche sehen dürfe? Dasselbe nochmal auf Englisch, mit nachfolgender Debatte. Der junge Mann glaubte wohl, er sei das Opfer rassistischer Willkür.

Das glaubte auch die junge Frau weiter vor mir in der Schlange und mischte sich ein: "Dann müssen Sie das aber auch bei allen machen." - "Das tun wir, das ist sogar Vorschrift." - Nein, tu sie nicht!" - "Erst vorhin..." - "Sie machen das nur bei Ausländern!" - "Das stimmt nicht, .." - "Ich komm hier nicht wieder her!"

Wenn der zweite Kassierer die kleine (offene) Tasche der Frau sich auch einmal hätte zeigen lassen: dann hätte sie die nötige Beachtung gefunden und er und seine Kollegen stünden nun nicht als Rassisten da.

Von einem Musical, zudem mit politischen Bezügen, kann man nicht Tiefe erwarten wie bei Komödie und Tragödie, schon aber Spektakel. Und die aktuelle Bremer Inszenierung von "Hair" bietet es, mit Tanz, (Chor)Gesang, Maske, Interviewprojektionen und Bauten. Die Botschaft ist bei mir allerdings nicht angekommen - vielleicht sträubte sich meine Wahrnehmung einfach gegen das Gemisch aus deutsch und englisch -, was besser sein mag als eine klar vernehmliche Botschaft, die peinlich wäre. Wie zum Beispiel, wenn das demonstrative "Do-do-do-do-do-do-do-it!" der vorletzten Gesangseinlage als Aufforderung zu verstehen sei, eigene alternative Lebensformen zu entwickeln wie die interviewten Leute der Filmeinspielungen. Doch dazu später.

Gesanglich, tänzerisch, instrumental, darstellerisch und choreographisch ist die Inszenierung unterhaltsames Spektakel; wenn es keine action gibt, wird zumindest gesungen, der zentrale Bühnenbau - eine zweigeschossige Villa irgendwie alternativen Gepräges - wird mehrmals herumgedreht, jede seiner vier offenen Seiten, ebenso die Terrasse um den kleinen Bau im Obergeschoß, wird als Bühne in der Bühne genutzt, man sieht etwas vom täglichen Leben in dieser Unterkunft: das ist hübsch gemacht und bietet Abwechslung, gelegentlich werden besagte Interviews parallel eingeblendet, oder eine der beiden Kameras in der Villa liefert Bild und Ton. Unterhaltsam ist es, aktualisiert ist es, was will man mehr von diesem "Hair".

Weniger hätte ich bei den neuen Arrangements der alten Songs erhofft, nämlich weniger Handwerk, dafür mehr Inspiration. Ich erinnere mich an eine Stelle, wo der Chor an Kraft gewann, Oberstimme und Unterstimme gegeneinander gesetzt, jetzt hätte es ergreifend werden müssen, aber es blieb seicht, weil Technik nicht Gefühl ersetzen kann. Auch fehlte manchen der neuen Arrangements der rechte Fluß, oder sagen wir drive, weil es offenbar an Pop-Verständnis mangelt, andere gerieten zu Mitklatschnummern. Aber das kommt einem Publikum entgegen, das Spektakel will, und so gesehen ist das auch in Ordnung. Eine gelungene Aufführung also, der auch langanhaltend Applaus gespendet wurde.

Der aktuelle Bezug des alten, erneuerten "Hair" war das Leben Alternativer, die in den besagten Interviews ihre Lebensgestaltung auf dem Lande oder in der WG schilderten, von gemeinsamer Kasse, von Demoteilnahme oder von Kompostklos erzählten. Mal meinte ich in der Spielhandlung eine Persiflage, mal eine Bejahung dieser Dropouts und Außenseiter wahrzunehmen, am Ende blieb es trotz "Do-do-do-do-do-do-do-it!" unentschieden.

Oder doch nicht ganz. Denn heimlich, still und leise lief während der letzten, intensiven Aktionen auf der Bühne auf den beiden seitlichen Leinwänden noch ein Film. Die meisten der Interviewten waren einzeln und in Gruppen zusammen mit dem Hauptdarsteller zu sehen, auf einem ausladenden Bett, hinter dem an der Wand zwei Zettel angebracht waren: "hair peace" und "bed peace". Und da konntest du deutlich sehen, worum es wirklich geht - die Politleute probieren aus, wer sie sein könnten, der Schauspieler lebt; sie spielen, er ist. So steht es in den Gesichtern geschrieben für alle, die des Lesens mächtig sind.

ist eine dieser neuen Wortschöpfungen, die ich nicht mag, denn der Ausdruck bedeutet doch eher Spott und daß man sich eben nicht schämt. Heute stand ein junger Mann zwei Kunden vor mir an der Kasse im Supermarkt, zog eine Packung Filterzigaretten, und es plumpste eine Schachtel mit heraus, die er nicht gewollt hatte. Als er sich bemühte, die ungewollte Schachtel anständig loszuwerden, sah ich ihm seine Gefühle an und verstand sehr gut seine Schamesröte, hätte ihm auch zugerufen, daß er das Ding doch einfach bei der Kassiererin abgeben sollte, wenn da nicht noch Kunden zwischen uns gestanden hätten.

Also sah ich nur zu, wie er die Packung an der Seite des Automaten abzulegen versuchte, da sie dort aber keinen Halt hatte, auf dem Automaten, von dessem schmalen Grat sie aber abrutschte, und schließlich in die Ausgabe, von deren Schräge sie aber abglitt, so daß er schließlich mit geröteten Wangen tat, was ich ihm gerne geraten hätte. Die Kassiererin sah kein Problem, nahm die Zigarettenschachtel und legte sie hinter ihre Kasse. Der junge Mann war erleichtert, die Röte wich, und er blickte sich nach ein paar Sekunden zu den hinter ihm Wartenden um. Ich sah zum Eingang und machte ein neutrales Gesicht - meinetwegen mußte er sich nicht schämen.

Jedem kann es schließlich passieren, in eine Situation zu geraten, in der unser guter Wille wie Unfähigkeit wirkt und uns die Schamesröte ins Gesicht treibt, weil wir uns wie Trottel vorkommen. Dann wäre es schön, wenn uns jemand rechtzeitig einen guten Rat gäbe, anstatt sich fremdzuschämen.

Ich hatte mir eine kleine Einkaufsliste gemacht, um unter anderem herauszufinden, ob es in dem neueröffneten Supermarkt in meiner Nähe ein Mineralwasser meiner Wahl und diesen appetitlich würzigen Tomatensaft gibt. Während ich forschend durch die Regalreihen stapfte, rief eine Frauenstimme: "Lilu, wo bleibst du denn! Komm mal her." Angenehm, freundlich, ohne Aufregung, und ohne Ungeduld. Kein "Wir wollen doch jetzt" und kein "nun mach mal endlich". Und eine helle, sehr junge, aber deutlich artikukierende Stimme antwortete: "Ich komm doch schon. Ich krabbel. Ich komm gekrabbelt." Im selben Moment bog ich um die Ecke und sah das Kind: die Äuglein leuchteten vor Vergnügen, und es krabbelte auf allen Vieren; nicht dorthin, von wo die Mutter gerufen hatte, sondern quer durch die Regale, Richtung Eingang.

Was ich suchte, fand ich nicht; offenbar führt dieser Supermarkt nicht die von mir bevorzugten Marken. Also strebte ich zur Kasse und sah aus dem Augenwinkel besagtes Kind nunmehr laufend zwischen Obst und Gemüse. Wieder rief die Mutter: "Lilu, wo bist du denn?" Die Frau kam mir entgegen, und wie im Spiel, wo man jemandem das Versteck einer dritten Person verrät, zeigte ich verstohlen auf die Kleine. Wir lächelten uns kurz, aber herzlich an, ich begab mich zum Weinregal, sie holte ihre Tochter. An der Kasse stand sie einige Positionen vor mir, zu weit, um etwas Freundliches über die melodische Stimme ihrer vergnügten, ungehorsamen, aber völlig friedlichen Tochter zu sagen, zumal der hagere Mann vor mir mit seinem Babbelfon herumnervte, aber ich konnte sie in Ruhe betrachten: ein Gesicht. Um das Kind, das an einer Barriere herumturnte und gar nicht zu bremsen schien, wieder einzufangen, sagte sie: "Willst du mir helfen? Leg das doch mal aufs Band." Gab dem Kind irgendeinen Artikel in die Hand, und dieses legte das Teil mit konzentriertem Gesicht auf das Laufband vor der Kasse.

Auf der Straße sah ich die beiden vor mir gehen. Ein Wunschkind, dachte ich. Und: sie ist glücklich mit ihrem Kind. Und: Sie nervt nicht herum, sondern tut nur das, was nötig ist, ohne dem Kind Freiheiten zu nehmen. Ich freue mich darauf, den beiden wiederzubegegnen. Denn obwohl ich ein Kinderschreck bin, mag ich die Lütten doch von Herzen gern: wenn sie sich des Lebens freuen.

Man erlebt ja schon als Kind so Einiges; auf der Straße (ich war nicht im Kindergarten), oder auch im Sportverein. Da gab es die Kinder der Familie P. - Wolfgang, Corinna und Udo -, durchaus gutartig, aber von lahmer Dummheit, oder Peter und Egon (die keinen Tag ohne Streit miteinander vergingen ließen), zwar mit begrenztem Horizont, aber keineswegs dumm, gelegentlich sogar pfiffig. Ich war ein Pfiffikus, wo immer ich hinkam, aber ich glaubte stets, der Beste sein zu müssen, und es verdroß mich, eben der nicht zu sein. Dergestalt mit mir selbst befasst, erwarb ich erst spät und unter Schmerzen Menschenkenntnis, die aber ohne Schmerzen gar nicht zu haben ist.

Es gab im Verein auch einen Außenseiter, Manfred, der nicht weiter unangenehm auffiel, nur eben nicht dazugehörte. Während eines Sommers verschwanden aus dem Umkleideraum verschiedene Dinge; beispielsweise Quartetts, aber auch mal zwei oder drei Groschen, unauffällig noch, doch einmal Zwomarkfuzzich, die meine waren und mein gesamtes Taschengeld. Das war nun offensichtlich Diebstahl und ich empörte mich im Kreis der Spielkameraden. Wir überlegten, wer das getan haben könnte, und da wir nun erstmals über Diebstahl redeten, stellte sich heraus, daß schon zuvor hier und da etwas auf rätselhafte Art verlorengegangen war. Heinrich sprang auf, er habe einen Verdacht.

Als er zurückkehrte, hatte er Manfred am Wickel, den Außenseiter, klemmte eine Hand in dessen Nacken, und er machte Ernst, der Griff war schmerzhaft. Er habe ihn überlistet, sagte Heinrich, und nun solle Manfred sein Geständnis vor uns wiederholen. Ich, sagte der Ge- und Bezwungene, habe das Geld geklaut, aber das meiste schon ausgegeben; es tue ihm leid, hiermit gebe er die restlichen fünfzig Pfennig zurück. Was immer er befürchtet haben mochte, er bekam keine Prügel - ich erinnere mich, daß er mir unter Heinrichs Regiment schon wieder leid tat -, aber er war nun noch mehr Außenseiter. Auch die Spielkameraden empfanden ein Mißverhältnis zwischen Vergehen und Behandlung, und uns kam die Geschichte seltsam vor, jedem für sich, wie sich est später herausstellte.

Es war Peter, glaube ich, der Manfred beiseite nahm, als Heinrich mit seinen Eltern verreist war, und ihn fragte, ob es wirklich so gewesen sei, wie er (unter Zwang) behauptet hatte. Ja, er hatte tatsächlich unter Zwang behauptet; Heinrich hatte ihm einen kleinen Anteil am Geld versprochen, wenn er die erfundene Geschichte vortragen würde. Und wenn nicht? Heinrich, Dieb bei dieser und bei anderen Gelegenheiten, hätte kräftig ausgeteilt.

Manfred, armer Leute Adoptivkind, hätte durchaus in Versuchung gewesen sein können, doch hätte er im Falle eines Diebstahls ein schlechtes Gewissen gehabt, dessen bin ich sicher. Heinrich hatte bequemerweise kein Gewissen. Als ich Letzteren, beinahe im Erwachsenenalter, zufällig wiedersah, hatte er ein fies verlogenes Drogengesicht, und ich hielt sein Ende auf die eine oder andere Art für abgemacht.

Voriges Jahr, in der Schlange vor einer Kasse im Supermarkt, sah ich einige Positionen vor mir jemanden, der mir bekannt vorkam: diese Augenpartie, nur zu vertraut, wer kann das sein - jawohl, Heinrich, mit einer Entwurfsmappe unterm Arm, vermutlich als Designer bei einer Agentur untergekommen, auf jeden Fall in einem mehr oder minder kreativem Beruf tätig. Er sah auch nicht fies oder verlogen aus, und zu gesund für Drogen, aber auch nicht symphatisch, mehr die Art Gott im Westentaschenformat.

Manfred, den Außenseiter, hatte ich noch als Jugendlicher wiedergesehen, ein geduckter und verhuschter Mensch, dem, und sei es nur aus Prinzip, Gerechtigkeit hätte widerfahren müssen. Wir hatten wohl seine Unschuld zur Kenntnis genommen, aber stigmatisiert blieb er dennoch. Er hat es hoffentlich im weiteren Leben besser getroffen, und da denke ich an meinen ältesten Neffen, der der richtigen Frau begegnet ist, die ihn mit sich ausgesöhnt hat. Mir tut es immer noch weh, das falsche Spiel, das Heinrich mit ihm trieb, nicht durchschaut zu haben. Das ginge jedem so, der ein Gewissen hat. Es ist eine Qual, aber man lernt daraus.

sang zum Abschluß der zentralen Maikundgebung des DGB ein Chor von Sangesbrüdern und -schwestern, deren Alter zusammengenommen das Alter dieses hübschen Liedes aus der Mitte des 19. Jahrhunderts um ein Vielfaches übersteigt; eines Liedes, das in einer anderen Zeit aktuell war und seit der Nachkriegszeit vorwiegend von Intellektuellen gepflegt wird. Auch das sehr viel kräftigere

Und weil der Mensch ein Mensch ist
drum braucht er was zu essen bitte sehr
es macht ihn ein Geschwätz nicht satt
das schafft kein Essen her

wäre unangebracht, denn erstens geht es heute nicht um das Herstellen einer Arbeitereinheizeinheitsfront, und zweitens stimmt, was quirinus schreibt, daß nämlich der Mensch nicht auf FressenFickenFernsehn reduziert sein will.

Die Gewerkschafter hätten gut daran getan, den musikalischen Teil der Gewerkschaftsjugend zu überlassen, die uns in den vergangenen Jahren mit jugendlichem Ungestüm und populärer Musik erfreut hat (Umdichtungen von "We will rock you" und "Hit the road Jack", arrangiert für Stimmen und leere Plastiktonnen). Am heutigen 1. Mai war diese Jugend drauf und dran, die Revolution auszurufen. Daß es bei einigen traditionellen "Hoch die internationale Solidarität" und politisch inkorrekten "Ein gutes Leben für Alle, sonst gibt es Krawalle" blieb, mag mit der Lahmheit der offizielen Reden zu tun haben, die einfach lähmend ist. Unter den Zuhörern war aber verschiedentlich Murren zu hören und einmal erscholl auch der Ruf "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Kohle klaut!". Die Menschen haben die Schnauze voll, wissen aber nicht was zu tun ist und hoffen - noch? - auf ihre Vertreter.

Das Ausrufen der Revolution hätte mit einer Bankenbesichtigung einhergehen können, denn am Kundgebungsplatz gibt es Bremer Bank, Deutsche Bank und PriceCooperWaterhouse, Institute und Gesellschaften, die bis über beide Ohren die "Finanzkrise" mitverschuldet haben. Natürlich nur ein Anfang, ein Warmlaufen gewissermaßen, denn kein Coup d'Etat kann gelingen, wenn man nicht Rundfunk, Fernsehen und am besten auch gleich die Presse unter seine Oberhoheit bringt, was ja der Grund ist, weshalb die verfassungsfeindlichen "Wirtschaft zuerst!"-Netzwerke heute beinahe nach Lust und Laune (gleich)schalten und walten können.

Ein anderer Teil der engagierten Jugend beging anschließend den EuroMayday, bunt und mit Witz, teilweise als Räuber maskiert, mit Forderungen wie "1 Million in kleinen Scheinen!" und "Mehr soziale Luftmatratze!", was immerhin einige Schaulustige anzog und die Hoffnung erhält, daß mehr Jugendliche in den nächsten Jahren auf positive Veränderungen drängen werden, es also nochmal eine spürbare Gegenbewegung zum Wirtschaftskonformismus geben kann, eben weil der Mensch nicht auf FressenFickenFernsehen reduziert sein will. Ora et Labora ist heute aber wirklich kein Thema mehr, liebe Linksintellektuelle, da mischt euch mal unters Volk und hört es euch im O-Ton an.

Ein Kollege fragte mich, ob ich auch so gut drauf sei seit der Zeitumstellung. Nicht ganz, sagte ich, der Sonntag sei ja eher trüb gewesen. Am Montag sei ich eine Stunde vor dem Wecker aufgewacht, völlig unausgeschlafen, aber die Sonne habe geschienen und so sei ich eben aufgestanden: und der Sonnenschein sei mir gut bekommen. Wieso "auch" gut drauf? Der Kollege antwortete, eine Bekannte habe ihm tags zuvor gesagt, sie sei seit der Umstellung auf Sommerzeit gut drauf. - Das sei eine Schein-Korrelation, sagte ich schein-fachmännisch, meinend, es bestehe nur ein scheinbarer Zusammenhang.

Eine Schein-Korrelation war vor Jahresfrist auch die Meldung eines obskuren Wissenschaftlers, daß erfolgreiche Geschäftsleute bestimmte andere Gene hätten als die übrigen Bürger, denn ganz gewiß ist Geschäftssinn nicht in den Genen verankert. Wohl aber kann ich mir vorstellen, daß Skrupellosigleit andere Gene voraussetzt als soziale Veranlagung. Letztere ist der Normalfall des Menschen, erstere - nun ja.

Wie an jedem Morgen betrat Herr L. das Büro, die Kapuze überm Kopf und darunter die modisch silberglänzenden Kopfhörer seines iPod. Er winkte zur Begrüßung, wie er es immer tat (manchmal fügte er ein "Ahoi" hinzu) begab sich an seinen Arbeitsplatz, streifte die Kapuze ab und entledigte sich der Kopfhörer. Da er nun die Geräusche im Büro hören konnte - das Sirren der PC-Lüfter, das Klappern der Tastaturen und die Laute, welche seine Kollegen von sich gaben -, nahm er an, daß umgekehrt man ihn auch hören können müßte und erzählte in den Raum hinein, welchen Zug er heute morgen verpaßt habe (er konnte sich aber auch nach einem Song oder Film erkundigen oder jene Gedanken äußern, die er sich auf der Herfahrt über die Implementierung eines bestimmten Algorithmus in das aktuelle Projekt gemacht hatte). Kurz, um ihn als Zentrum breitete sich Kommunikation aus.

Nachdem er seinen PC eingeschaltet und die Jacke ausgezogen hatte, begann er mit der Arbeit unter Absonderung eines kontinuierlichen Stroms von "shit"s und "fuck"s (wegen der internationalen Zusammensetzung der Belegschaft wurde im Büro Englisch gesprochen). Als angehender Spezialist für Datenanalyse - er hatte wenige Jahre zuvor erfolgreich einen Studiengang "computer science" an einer internationalen Universität beendet und ging auf die Dreißig zu - und Kenner verschiedener Betriebssysteme und der für seine Arbeit typischen Software konnte es nicht ausbleiben, daß er mißglückte Neuerungen, unsinnige Programmierungen und auch sonst ziemlich alles als "fucking retarded" kommentierte. Nach diesem Einstieg setzte er die Diskussion über die nächsten Schritte am Projekt mit dem zuständigen Kollegen fort, quer über die Schreibtische anderer Kollegen, die an anderen Projekten arbeiteten. Er versäumte nicht, kleine Gags einzuflechten, die ihm aus dem Fernsehen geläufig waren, nicht ohne zu fragen, ob man die auch kenne, woraus sich für gewöhnlich Gespräche über bestimmte kulturelle Erscheinungen der Neuzeit entwickelten, beispielsweise über "The Simpsons", gespickt mit weitern "fuck"s und "shit"s. Mit dem Seufzer "Fuck ey, I think I'm gonna have a coffee" leitete er dann den nächsten Abschnitt des Arbeitstages ein.

Zurück am Arbeitsplatz, einen dampfenden Kaffee in einem seit Wochen benutzten Becher vor sich, ging er eine schwierige Stelle in seiner Programmierung an und setzte sich zur besseren Konzentration die Kopfhörer auf, das Gerede seiner Kollegen sollte ihn nicht stören. An weniger schwierigen Stellen, die er ohne "wall of sound" bewältigte, sagte er gerne vor sich hin, was er gerade tat. Inzwischen tickten die Uhren gen Mittag und es galt zu besprechen, zu welchem Restaurant oder welcher Fastfood-Bude man sich heute begeben würde. Das war schnell erledigt und während des Aufbruchs wurde noch mal eben über die aktuellen Entwicklungen im Projekt geredet, was einen längeren Aufenthalt vor der mit Formeln und Zeichnungen übersäten Tafel zur Folge haben konnte, in Hut und Mantel gewissermaßen.

Wenn dann Herr L. gemeinsam mit einem oder mehreren Kollegen den Hunger stillte, kümmerte sich der eine oder andere Mitarbeiter darum, in der Küche den Zucker zurück ins Regal zu stellen, die Spüle von Teelöffeln und Bechern freizuräumen und Kaffeeflecken oder auch Wasserlachen von der Anrichte zu wischen. Bei dem fleckengespickten Linoleum war aber mit dem Kümmern für gewöhnlich Schluß, und in der Toilette wurde nur im Notfall zugepackt.

Am frühen Nachmittag, als alle sich wieder im Büro eingefunden hatten, lugte die Sonne in den Hinterhof und schickte Strahlen blendender Helligkeit in den Raum. "Fucking sun, ey!" rief da Herr L. und eilte, die Jalousie zu schließen. Weitere Projektbesprechungen folgten, wobei der Mund schneller als die Gedanken und sowieso wendiger als die Ohren war, was zu vielen Unterbrechungen des Gegenüber und dem wiederkehrenden Ausspruch "no no no , what I'm saying is" führte, worauf der Kollege bald mit prinzipieller Opposition reagierte, manchmal aber zähneknirschend einräumen mußte, daß Herr L. Recht habe. Später kam der von einer Besprechung beim Kunden zurückgekehrte Chef in die Arbeitsräume und berichtete den neuesten Stand. Herr L. bestürmte ihn mit Fragen, die zusehends in andere Themengebiete abwanderten und der lautstark fortgesetzten Konversationen eine persönliche Note gaben.

Und schon ging es auf Feierabend zu. Ein letztes "fuck" und Herr L. begab sich heim, um dort noch ein wenig am Computer zu arbeiten, ungestört vor sich hinredend, da er, wie er gelegentlich sagte, einfach den Mund nicht halten könne. - Ganz offensichtlich leidet er am Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom.

Wenn die Werbung heute mutiger ist als der Mainstreamjournalismus, stimmt etwas ganz gewaltug nicht in diesem unserem Lande. Andererseits hat es mir gute Laune gemacht, vor einigen Wochen auf einem Zigarettenplakat zu lesen: "Die Grünen sind jetzt käuflich". Denn was die Spatzen von den Dächern pfeifen, findet man in unseren Medien nur noch selten geschrieben und gesendet. Daß sich die gequälte Schreiberseele nach acht Jahren sträflichen Schweigens nun über die verfehlte Politik eines George W. Bush ausläßt, kann man doch nicht mehr ernst nehmen, da sehe ich mir lieber eine Vorführung im Kasperletheater an. Dort verhält sich ales so, wie man es erwarten darf: Kasper befreit die Prinzessin aus den Fängen der Großmutter und der Polizist verhaftet das Krokodil. Zumindest so ähnlich. Außerdem macht das ebenfalls gute Laune.

Ganz wie der heutige Tag, der just aufzuklaren begann, als meine Einkäufe fällig waren. Ich erfreute mich an der Natur, die dieser Tage impressionistisch und psychedelisch daherkommt wie in keiner anderen Jahreszeit, spazierte an der Pipe entlang (von der nur Bremer wissen, weshalb sie so heißt und warum es sie gibt), wo Möwen ebenmäßig ausgerichtet auf einem im Wasser liegenden Baumstamm hockten, und starrte unvermittelt auf knapp zwei Dutzend leere Wodka- und Schnapsflaschen im Gras neben einer Sitzbank. Während mein Adrenalinspiegel sich noch hob bog ein alter Mann mit seinem Fahrrad um die Ecke und schimpfte laut (über etwas ganz anderes): "Die jungen Leute kümmern sich auch um gar nichts mehr. Früher hätte es das nicht gegeben." - "Nein," sagte ich, weil er mich ansah. Ich deutete zur Bank hin: "Haben Sie das schon gesehen? Ich hab keine Ahnung, wer so etwas macht." - "Ach du liebe Zeit." - "Ja." - Während ich mich abwandte um Tabakhändler und Bäckerei aufzusuchen, sagte er einige Worte, die ich nicht richtig verstand. Es könnte: "Sind die alle zerbrochen?" gewesen sein, aber keine der Flaschen war kaputt. Dann war es vielleicht doch:" Wer hat denn die alle ausgetrunken?", was mir besser gefällt, denn vom Unrat einmal abgesehen muß man doch auch die Leistung als solche würdigen.

Mein Bäcker hat seit Jahren Rabattkarten - für jedes gekaufte Brot gibt es einen Stempel, für zwölf Stempel gibt es ein Brot - und heute hatte ich wieder ein Dutzend Stempel beisammen. "Das macht zweifünfundneunzig," sagte die Verkäuferin. "Nein," sagte ich und genoß die Albernheit, "ich bezahle mit Karte."

In letzter Zeit liegt mein traditionell loses Mundwerk so'n büschen anne Leine, und das macht mir Sorge. Gerade mal für ein bißchen Rabatz beim Bäcker reicht es, oder daß ich den Nordic Walking-Gruppen ein einfühlsames "Bißchen wenig Schnee heute, nich?!" zurufe. Aber heute brauchte ich mich nicht sorgen, heute gab es eiine exzellente Show, ganz ohne mein Zutun.

Steh ich da an der Kasse, ein Lulatsch vor mir, davor einer vom Supermarkt, davor ein Pärchen Vierziger. Die Waren flutschen übers Band, die Beträge in die Kasse, die Card steckt bereits im Lesegerät - ach, die Bananen sind nicht abgewogen. Die Frau eilt davon in Richtung Obst und Gemüse. Wir stehen und warten, warten und stehen, stehen und warten. Der Mann flegelt sich vor lauter Warten und Stehen schon beinahe auf den Tresen. "Vielleicht", sagt er zur wartenden - und sitzenden - Kassiererin, "vielleicht hat sie noch etwas einzukaufen gefunden." Die Kassierein lacht, der Lulatsch ebenfalls, und sogar ich. Aber es wird uns doch ein bißchen lang, dies Stehen und Warten.

Doch da fiept es nebenan. Ein Mann mit Karohemd und Jeans wird von der aufgeschreckten Kassierein angerufen, er möge doch bitte herkommen. Bereitwillig zückt er dann auch sein Tabakspäckchen aus der Brusttasche ("Die Marke führen Sie gar nicht, die hab ich im Tabakladen gekauft") und bewegt es am Detektor entlang. Kein Fiepen. Dann geht er selbst am Detektor entlang, und sofort fiept das Ding los. Ein Blick in seine Plastiktüte enthüllt nichts Verbotenes. Er führt sie am Detektor entlang: fiep! fiep! fiep! - "Das ist bestimmt das Hemd", sage ich zum Lulatsch. - "Das ist die Plastiktüte", sagt er zu mir, und wir lachen. Der Supermarkttyp inspiziert ihn nun genauer (läßt sich die Schuhsohlen zeigen, also, auf was die so kommen), findet aber kein Diebesgut und läßt den Mann gehen, der - ich bewundere ihn dafür - seine gute Laune nicht einen Augenblick verloren hat.

Wo ist aber jetzt die Frau mit den Bananen? Alle halten Ausschau, alle halten es kaum noch aus, und hinter mir halten ein paar Brillbärte offen zur Schau getragenen Mißmut für salonfähig. "Da!" Ja, da - "da kommt sie", und außer den Bananen hat sie ein Stück Butter und noch etwas - ist das Quark? - dabei. Dann geht ihr auf, daß die Kasse blockiert war, weil sie die Codenummer für die Card nicht eingegeben hatte, und freundlich bittet sie um Entschuldigung. Der Lulatsch und ich lachen sie ebensofreundlich an. War immerhin unterhaltsam. Sie dreht sich noch einmal um: "Dafür wird der Sonntag umso schöner, das verspreche ich Ihnen." Besser kann man sich kaum entschuldigen.

 

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