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Motivation

Sonnabend wird meine in Köln lebende Schwester in Bremen sein und ich freue mich auf das Wiedersehen mit ihr. In der Erwartung ihres Besuchs fiel mir ein buntbebildertes Kinderbuch ein, dessen erste Zeilen ich noch auswendig wußte. Also flugs via Internet den kompletten Text besorgt.


Die Ballade

Wie war zu Köln es doch vordem
mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn war man faul, man legte sich
hin auf die Bank und pflegte sich:

Da kamen bei Nacht,
eh' man's gedacht
die Männlein und schwärmten
und klappten und lärmten,
und rupften und zupften,
und hüpften und trabten,
und putzten und schabten,
und eh' ein Faulpelz noch erwacht,
war all sein Tagewerk - bereits gemacht!


Natürlich, es handelt sich um Die Heinzelmännchen zu Köln von August Kopisch, einem schlesichen Dichter, der von 1799 bis 1853 lebte und die zu analysierende Ballade 1836 veröffentlichte. Die erste Strophe habe ich vollständig zitiert, die nächsten fünf fasse ich kurz zusammen: die Zimmerleute waren zu faul, ein Haus zu bauen, der Bäcker hatte keine Lust, Brot zu backen, der Fleischer mochte das Schwein nicht verwursten, beim Küfer sank man weinselig in Schlummer, der Schneider dachte gar nicht daran, den Rock für einen Staatsmann zu nähen. Ja, wenn die Heinzelmännchen nicht gewesen wären! Ausführlich berichtet der Dichter von ihren Verrichtungen, derer nicht wenige waren. Die siebte Strophe erzählt, wie die Neugier der Schneidersfrau die Heinzelmännchen vertrieb. Und so endet die Ballade:

Oh weh, nun sind sie alle fort,
und keines ist mehr hier am Ort:
man kann nicht mehr wie sonsten ruhn,
man muß nun selber alles tun.

Ein jeder muß fein
selbst fleißig sein
und kratzen und schaben
und rennen und traben
und schniegeln und bügeln
und klopfen und hacken
und kochen und backen.
Ach, daß es noch wie damals wär'!
Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her.



Kopisch und seine Zeit

Dies Werk von Kopisch ist von großer prophetischer Weitsicht, wenn man es nur richtig zu lesen versteht. Dazu muß man wissen, daß die industrielle Revolution noch nicht begonnen hatte; große Fabriken und Anlagen, Hochhäuser und Bürogebäude, moderne Verkehrs- und Kommunikationmittel, Fast Food und Klingeltöne gab es damals noch nicht. Allenfalls Manufakturen als Vorläufer der Industrie setzten dem Handwerk zu. Für Kopisch und seine Zeitgenossen galt noch: wer nicht durch seiner Hände Arbeit etwas schafft - sei es in Handwerk, Haushalt oder Kunst - ist ein Faulenzer. Deutlich gesagt, Kopisch gebrauchte Bilder, die seine Zeitgenossen verstehen konnten, um etwas auszudrücken, das er selbst wohl nicht völlig verstanden hatte, wie das oft bei Visionen so ist.

Und eine Vision oder Eingebung oder Erleuchtung hatte er; sie zeigte ihm eine Zukunft, die auch für uns noch Zukunft ist; solch eine Vision hatte er. Das erklärt sich aus der Bugwelle der Zeit, welche die Zukunft vor sich herschiebt, und so können besonders empfängliche Menschen eben weit vorausschauen, wie längst wissenschaftlich belegt wurde.


Analyse

Führen wir uns noch einmal die Ausgangssituation vor Augen. Die Produktionsmittelbesitzer (früher auch Kapitalisten, heute Manager) haben gar keine Lust, selbst zu produzieren, sie sind die Faulpelze. Das Herstellen besorgen die als Heinzelmännchen verbildlichten Volksmassen. Sie rackern und schuften zum Wohle der Herren und bleiben anonym. Die Früchte ihrer Arbeit erntet die herrschende Klasse. Für uns im nachmarxistischen Europa nichts Besonderes, aber damals schon beachtlich.

Doch nun kommt's: sobald die anonymen Massen als Menschen wahrgenommen werden (bei Kopisch durch die Neugier der Schneidersfrau ausgedrückt), verflüchtigt sich der Spuk der Ausbeutung und die Herren müssen wieder selbst einer schaffenden Tätigkeit nachgehen. Darin liegt die Aktualität und die Sprengkraft der Kopisch'schen Vision.
hweblog meinte am 14. Aug, 15:19:
Das ist eine hübsche Interpretation, Dicki: mehr komisch als Kopisch. Denn der war alles andere als ein bürgerlicher Revoluzzer. Und nicht nur das. Er hat seine Geschichte sogar einem Kölner geklaut, der wiederum nur eine im nördlichen Europa weitverbreitete Sage zu Papier gebracht hat. Deren kritisches Potential haben wir also (mal wieder!) dem arbeitenden Volke zu verdanken, d.h. den Dickis aus jenen Zeiten, da es noch Arbeit für Dickis gab. Daß Kopisch den Stoff gewählt hat, dürfte eher seinem schlechten Gewissen entsprungen sein: denn als homophiler Schöngeist gehörte er ja zu den Langschläfern. So vergessen hatt' ich den Verfasser eines meiner liebsten Kinderbücher, daß mir sein Name nicht bekannt vorkam, als ich das Memorandum meines Lebens des melancholischen August von Platen las! Das kommt davon, wenn Bücher keinen anständigen Anmerkungsapparat haben. Dieser Kommentar aber soll ein anständiger sein; und deshalb führe ich hier noch mal eben einen Vers an, den der öffentlichkeitsscheue Gerd Bourbeck (der nuu endlich mal namentlich im Netz verewigt werden muß) einst geschrieben hat:

Daß Platen schwul wie Platon ist gewesen,
stört uns so wenig wie die Verse, die wir lesen.

Mich hat deine Interpretation nicht nur nicht gestört, sondern erfreut, wie du siehst. Vielleicht sollte ich sie zum Anlaß nehmen, mein Heinzelmännchenbuch zu suchen und bei der Gelegenheit mein Kabuff aufzuräumen. 
Dicki antwortete am 14. Aug, 23:29:
Vielen Dank für die ausführlichen Anmerkungen. Hinweise auf den Klau - und den Rückgriff auf eine verbreitete Sage - hatte ich bei meiner Suche nach dem vollständigen Text schon gefunden. Dort hieß es aber auch, die Ballade sei Ausdruck des kritischen Blicks Preußens auf die rheinländische Natur. Haha, ein Langschläfer war er also, der Herr Kopisch; da hat er gut preußeln!

Du hast's durchschaut: was vorgibt Analyse zu sein, ist bloße Interpretation. Und dir brauche ich auch nicht extra zu sagen, daß mir die kleine Arbeit ein diebisches Vergnügen bereitet hat. Und gute Laune verschafft. - Denn mann viel Sbaaß im Kabuff, neech. 
 

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