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dirty old town

Als Kinder spielten wir auf bzw. in der Straße, es gab kaum Verkehr, und die parkenden Autos konnte man an seinen zehn Fingern abzählen, ohne alle zehn gebrauchen zu müssen (innerhalb weniger Jahre wurde es dann zum Geduldsspiel, einen Parkplatz zu finden). Frauen gingen von hier nach dort, um in den Geschäften der Nachbarschaft ihre Einkäufe zu machen, alte Männer mit qualmendem Zigarrenstumpen im Mundwinkel kamen vorbei, und auch ein Invalide in einem hölzernen Gefährt mit drei Rädern, die Antriebshebel mit den Armen vor- und zurückpumpend. Händler sahen wir mit Handkarren oder mit einem Kombi; die verkauften Nordseekrabben ("Granaaat, frischer Granaaat!") sammelten Schrott ein ("Alteisen, Lumpen und Papier!") oder verkauften Eier vom Bauernhof. Oder die Zeitungsverkäufer (Bild am Sonntag, gern genommen wegen der Berichte von der Fußballbundesliga).

Zum nahen Spielplatz wurde ich von Muddi oder meinen Geschwistern gebracht, die Aufsicht geleitete mich dann später über die Hauptstraße zurück, an der es noch nicht die Fußgängerampel gab. In der Spielplatzmitte war eine große Sandkiste, an der eine Rutsche stand, ringsum Bänke, bemalte Betonröhren (gut zum Verstecken), kleine Steinmauern (toll zum Balancieren) und im hinteren Teil Büro und Mehrzweckraum, in welchem ich zum ersten Mal ein Kaspertheater sah. Vor einigen Jahren wurde der Spielplatz endgültig aufgegeben, d.h. abgesperrt, das Grün verwilderte und sproß ungestört vor sich hin. Dann kam der Umbau bei der Straßenbahn, in dessem Zuge der Spielplatz planiert und, von wenigen Bäumen abgesehen, zur Wiese gemacht wurde, die nun freien Blick auf eine der großen Errungenschaften der Menschheit gewährt, den Autoverkehr.

Doch wird schon vor dem Umbau geplant gewesen sein, was nun beschlossen ist und nur noch von der Politik dem businessborniertem Pöbel, der immer "menschenwürdig" und "sozial" dazwischenbölkt, wenn man im Begriff ist, ein gutes Geschäft zu machen, als notwendig und wünschenswert verkauft werden muß: auf dem Gelände des ehemaligen Spielplatzes sollen Parkplätze für das nahegelegene Krankenhaus entstehen; gebührenpflichtig selbstverständlich, denn die Gesundheit der Bürger ist nicht mehr ein Anliegen des Staates, sondern eine Ware, die sich private Unternehmer teuer bezahlen lassen möchten. Nein, ich weine hier keinen Kindheitserinnerungen hinterher, sondern stelle fest, daß wieder ein Stück Lebendigkeit einbetoniert wird - und nur an Lebendigkeit werden wir uns erinnern. Wer hat jemals von schönen Erlebnissen auf Parkplätzen gehört oder setzt sich beschaulich auf eine Bank am Rande solcher Stein-, Beton- oder Asphaltwüste und genießt den Ausblick, atmet freudigen Empfindens die frische Luft?

Eben. Erinnerungen - ganz abgesehen von kürzlichen Spaziergängen und Radfahrten - verbinden mich auch mit der Juliushöhe, dem höchstgelegenen Teil des Stadtwerders, gleich hinter dem Gelände des ehemaligen städtischen Wasserwerks mit seine Anlagen und Becken zur Aufbereitung der Wässer. Dort wohnten die Familien von Egon, Peter und der Geschwister Traute, Birgit und Sohni (dessen richtigen Namen niemand interessierte und den ich nie erfahren konnte). Wir trafen uns im Schwimmverein in einer Weserbucht, spielten im Wasser und am Strand, tranken im Vereinsheim Cola, Sinalco oder Florida Boy (die Erwachsenen an der Theke hatten die typisch bauchigen Flaschen Haake Beck vor sich stehen), schleckten Eis am Stil, spielten Karten, Kriegen, Verstecken und auch mal Tischtennis (Rundlauf war sehr beliebt). Manchmal begleitete ich die Spielkameraden noch in das Kleingartengelände auf der Juliushöhe, bevor wir bis zum nächsten Tag Abschied nahmen.

Wenn ich dort heute unterwegs bin, denke ich natürlich an die Jungs und Mädels, die ich längst aus den Augen verloren habe, und erfreue mich an der Vegetation, die nach wie vor getreulich die Jahreszeiten abbildet, obwohl diese durch den Klimawandel gehörig in Unordnung geraten sind. Damit ist es nächstes Jahr vorbei, man muß auch loslassen können: vor mehr als zehn Jahren wurde die Bebauung geplant, ein satter Reibach lockte, nun endlich sind die Pläne zur Bebauung durchgeboxt, in verbindliche Verträge gegossen worden und die Profite sind fest eingeplant. Ein Luxusviertel aus Häusern voller Eigentumswohnungen wird aus dem fruchtbaren Boden der Parzellen und aus dem Gelände des früheren Wasserwerks gestampft werden inklusive erneuerter und ganz neuer Straßen und der Abholzung gewachsenen Grüns (damit die zukünftigen Bewohner freien Blick die "kleine Weser" haben und die Verkaufspreise desto höher angesetzt werden können). Und, machen wir uns nichts vor, das ist erst der Anfang der Bebauung weiteren Kleingartengeländes in "bester Lage". Nicht für eventuell staatlich geförderten Wohnungsbau für die sogenannten sozial Schwachen, die Mühe haben, erschwingliche Wohnungen zur Miete zu finden, sondern als Prestigeobjekte für gelangweilte Reiche und/oder ihre Schnöselbrut, die keinen Sinn für irgendwelche Schönheit ihrer Umgebung haben/hat oder für den natürlichen Reichtum, der für solch gewinnversprechendes Geschäft vernichtet wird.

Eines gar nicht mehr so fernen Tages wird man Eintritt für die heute noch stadteigenen Grünanlagen bezahlen müssen; und damit daraus auch wirklich ein Geschäft wird, kann die wirtschaftshörige Politikermischpoke gar nicht anders, als die Bürger - im Interesse der Gesundheit! - zu regelmäßigen Besuchen zu zwingen. Dann wird die Stadtverwaltung bereits an eine Bertelsmann-Tochterfirma übertragen worden sein, und die Polizei ist nur noch für die Slums zuständig. Wer es sich leisten kann, bezahlt teure Wachdienste. Und wehe, du begibst dich als armer Schlucker in die Wohnviertel der Gutsituierten ...

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Wir haben in den Straßen und Grünanlagen gespielt: jene Kinder aus unserer Straße, die keinen Kindergarten besuchten. Es gab eine Spielplatz in der Nähe, der von einer erwachsenen Person beaufsichtigt wurde und wegen seiner großen Sandkiste, der Rutsche, den Krabbelröhren und Balanciersteinen beliebt war. Wir haben am liebsten unbeaufsichtigt gespielt und kannten jeden verborgenen Pfad, jeden Baum und Strauch in unserer Umgebung. Spielten wir auf der Straße, dauerte es meist nicht lange, bis sich in einem Haus ein Fenster öffnete und eine ältere Person uns ausschimpfte, wir sollten gefälligst auf den Spielplatz gehen. Auf dem Vorplatz des Postamtes spielten wir häufig "Eins-Zwei-Drei-Berliner Schritt!", blieben aber auch dort nicht unbehelligt. Waren wir so unerträglich? War den Menschen anfangs der 60er Jahre Lebendigkeit unerträglich?

Besser und von besonderem Reiz waren die Trümmergrundstücke, jene noch aus den Bombennächten des zweiten Weltkriegs stammenden Lücken zwischen den Häusern. Ruinen wäre dabei zuviel gesagt, obschon sich einzelne Mauerreste fanden. Die Grundstücke waren im wesentlichen von Brennesseln und Kletten, aber auch anderen Sträuchern, Kräutern und Bäumchen überwuchert. Verstecken, Cowboy und Indianer, uns mit Kletten bewerfen oder einfach das Gelände erkunden, das waren unsere Beschäftigungen. Ich habe die Warnungen noch im Ohr, die Finger nicht in den Mund zu stecken, wenn ich etwas angefaßt hätte, es läge dort Rattengift aus.

Direkt neben unserem Mietshaus war eine solche Lücke, zunächst frei zugänglich, dann teilweise durch eine Plakatwand versperrt, schließlich durch einen Bauzaun geschlossen, womit einer unserer "natürlichen" Spielplätze verschwand. Ich beobachtete oft die Bauarbeiten, meist im Vorübergehen, und erinnere mich noch, wie das Fundament, die Kellerwände und der Boden des Erdgeschosses gegossen wurden. Die Mischer kamen auf das Grundstück gefahren und ein Arbeiter stemmte den langen Schlauch über die Formen, während der Beton herauspladderte. In dicken Gummistiefeln wateten andere Arbeiter durch den grauen Morast und dirigierten mit Schaufeln das Zähflüssige in alle Ecken und Winkel. Dann wurde gemauert. Einmal bot mir ein Maurer an, ihm für fünf Pfennig das Stück Ziegel zu reichen, aber ich war nicht geschäftstüchtig. Vielleicht hatte ich auch keine Lust, zu arbeiten. Als Fünfjähriger?

Im Herbst war das neue Wohnhaus fertig und die ersten Mieter zogen ein. Wenige Jahre später, ich lag gerade mit einer fiebrigen Erkältung im Bett, hörte ich, daß sich in diesem Nachbarhaus eine Frau, die rothaarige Oberschimpferin unserer Straßenspiele, umgebracht hatte. Was mag sie für eine Geschichte gehabt haben? Die Vergangenheit blieb gegenwärtig, auch in den geschichtslosen Neubauten.

Auch in den Nachbarstraßen gab es Trümmergrundstücke. Von einem gelangte man auf den Gang, der zwischen den Hinterhöfen hindurchführte. Terra incognita. Wie die ersten Entdecker schlichen wir in den Gang - und wurden sofort verscheucht. Neulich, bei einem Spaziergang, sah ich, daß dies Grundstück, als einziges weit und breit, immer noch unbebaut und mittlerweile völlig verwildert ist. Der Versuchung, es zu erkunden, konnte ich widerstehen. Ich wollte die Erinnerungen unangetastet lassen; eine heile Ruinenwelt in der allgegenwärtigen Zerstörung des Lebendigen.

Mein Weg führte durch die Bischofsnadel und die Wallanlagen, an dem kleinen Süßigkeitenladen vorbei (in dessen Schaufenster ich eines Abends eine Maus naschen sah) und über die Wallgrabenbrücke, schon hatte ich das Zentralbad mit seiner hohen Fensterfront im zweiten Stockwerk vor mir. Der Eingang aber befand sich an der Längsseite und führte in eine geräumige Halle, in der es außer Sitzbänken und Ausstellungsvitrinen auch einen Kiosk gab, soweit ich mich entsinne. Eine breite Treppe, auf halber Höhe nach links und rechts schwenkend, leitete die Besucher in die obere Halle und in den nach Geschlechtern getrennten Einlaß. Dort bezahlte man oder sagte den Namen des Schwimmvereins, zu dessen Trainingsstunde man erschien, und bekam einen farbigen Gummiring ausgehändigt, den man in den Schwimmhallen - es gab ein Schwimmer- und ein Nichtschwimmerbecken - um den Fußknöchel oder um das Handgelenk trug. Die Angestellten, so erinnere ich mich, waren alle in weiß gekleidet.

Vom Einlaß kam man zu den Umkleidekabinen, von dort in die Duschräume, und dann hatte man die Wahl, in welche der beiden Hallen man sich begeben wollte. Zunächst hatte ich aber das Zwischenstockwerk aufzusuchen. Dort, in einem fensterlosen Raum, kommandierte Herr Flohr eine Horde Wasserflöhe, die, von aufblasbaren Ringen umgürtet, in einem flachen, gekachelten Bassin mit den Schwimmbewegungen vertraut werden sollten.

Daß man das Schwimmen erlernen muß, wußte ich wohl, aber es bedeutete mir wenig, denn ich war mit dem Wasser auf du und hatte keinerlei Scheu. Im Sommer vor meinem siebten Geburtstag spielte ich in der Badebucht meines Schwimmvereins den Kameraden "Ertrinken" vor, eine dramatische Szene. Prompt rettete mich ein aufmerksamer Erwachsener - und ich wehrte mich nach Kräften, als mich Unterwasser ein kräftiger Arm packte und nach oben zerrte. Die Eltern waren sich einig: der Junge muß seinen Freischwimmerschein machen.

Mein großer Bruder nahm mich mit ins Zentralbad, zum Schwimmerbecken, und der Bademeister - weißes Hemd, weiße Hose - erklärte, daß ich auch gleich den "Fahrtenschwimmer" machen könne, wenn ich insgesamt eine halbe Stunde im Becken herumschwämme. Und so geschah es. Es wurde mein erster Vorstoß in die Erwachsenenwelt, denn fortan durfte ich im Schwimmerbecken schwimmen, durfte diese Halle mit dem Sprungturm und der Zuschauertribüne jederzeit betreten, die ich bisher nur von den Weihnachtsveranstaltungen des Schwimmvereins als Zuschauer auf der Tribüne kannte.

Hier nahm ich dann auch an den Trainingsstunden meiner Altersgruppe teil und wurde oft von den Eltern abgeholt und nach Hause geleitet - über die Wallgrabenbrücke, am Süßigkeitenladen vorbei, durch die Wallanlagen und die Bischofsnadel auf den Dom zu, über die Domsheide, vor den Schaufenstern der Zoohandlung verharrend, weiter die Balgebrückstraße hinunter und über die Weserbrücken - mit vom stark chlorierten Wasser rotgeäderten Augen, verschwommen sehend, breite Lichthöfe um die Straßenlaternen.

Eines frühen Abends, ich saß auf der untersten Tribünenstufe und wartete auf meinen Einsatz, während andere Kinder bereits gegen die Stopuhr ihre Bahnen zogen, sah ich im Licht der tiefstehenden Sonne, direkt vor einem der mehrfach unterteilten großen Fenster, einen Mann in Badehose, dessen Brust und Rücken so stark behaart waren, daß es wie ein Pelz wirkte. Ich war schockiert und fragte mich, ob das ein Tiermensch sei?

Mein Bruder besaß eine stattliche Sammlung der farbigen Gummiringe, die eigentlich beim Verlassen des Bades abgegeben werden mußten. An den Stirnseiten der Hallen waren rechteckige Leuchttafeln angebracht, die jeweils in der Farbe jener Schwimmer glommen, deren Badezeit abgelaufen war; eine Stunde, glaube ich, war üblich. Das war der Sinn der Gummiringe. Manch jugendlicher Besucher des Zentralbades dürfte sich wohl eine Sammlung davon zugelegt haben. Diese Tafeln und die großen Fenster gaben dem Bad eine ganz eigene Atmosphäre - zumindest für mich, als Kind.

Nach dem Willen der Stadtväter hätte aus dem ehemaligen Zentralbad Anfang der 90er Jahre ein erfolgreiches Musicaltheater werden sollen. Doch erfolgreich war nur das Unternehmen, das die erforderliche Umbauten vornahm sowie der Musicalveranstalter. Vermutlich war das auch der ganze Sinn der Sache. Denn eine Hand schmiert die andere; in Bremen ebenso wie anderswo.

 

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