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Wenn du - Jahrgang 1920 - achtzehnjährig deine Gesellenprüfung zum Koch bestanden und als Auszeichnung eine Ausgabe von "Mein Kampf" geschenkt bekommen hast, kurz darauf zur Wehrmacht einberufen wurdest und im Jahr darauf, weil 'der Pole' einmal zu oft 'provoziert' hatte, in den Krieg ziehen mußtest, den einen oder anderen Sieg miterleben konntest, 1941/42 in Jugoslawien stationiert warst und - Glück im Unglück - 1944 mit offener Tuberkulose in ein Lazarett im Westen kamst, wo du dich in eine Krankenschwester verliebtest, die deine Gefühle erwiderte, zweites Kind zerstrittener Eltern wie du selbst, und 1946 eine Heirat unausweichlich - aber auch gewünscht - wurde, weil ein Kind unterwegs war, die 'Niederlage' dir vielleicht nicht so furchtbar viel bedeutete - endlich Frieden! -, aber die Schmach, daß fanatische Landsleute wehrlose Menschen zu Tausenden und Hunderttausenden ermordet hatten, auf dir lastete, vielleicht noch mehr die selbsterlebten Exzesse im Kampf gegen 'den Feind', dann - darauf will ich hinaus - dann also würdest du vielleicht ebenfalls kein Wort über diese Jahre verloren haben wollen, um nicht an die Greuel, die dir ein Greuel waren, um nicht an die Schuld, die irgendwie und möglicherweise auch tatsächlich deine Schuld war, denken zu müssen.

Du hättest ganz rational zu Kopfschmerzen geneigt und dir Tabletten verschreiben lassen, die dir einen scheinbaren Frieden bescherten, solange sie die Bilder der Erinnerung von dir fernhalten konnten. Wir können das heute leicht in Worte fassen; wir, die wir an keinem Krieg teilgenommen haben und nicht die Zeit der Polarisierung und anschließenden Militarisierung, die Herrschaft des Wahnsinns miterlebt haben: der Krieg hat dich sechs lange Jahre lang traumatisiert. Das sagt sich so. Mein Vater wollte nicht darüber sprechen, es war seine Entscheidung, er hat geirrt, das Aussprechen des vermeintlich Unaussprechlichem hätte ihn erleichtert.

Die Tabletten, die du - wie meine Mutter sehr viel später sagte - wie Bonschen aßest (50 Tabletten in einer Woche), ruinierten deine Nieren, du wurdest Dialysepatient wegen Nierenversagen, bekamst Tabletten gegen die Nebenwirkungen der Behandlung und Tabletten gegen die Nebenwirkungen der Tabletten gegen die Nebenwirkungen. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker? Der verschreibt munter Tabletten.

In der Nacht des 12. November 1976 veließ ich (trotz Verbot) unsere Wohnung im Erdgeschoß durch das Fenster meines Zimmers, begab mich zu Jörg L., in dessen Zimmer sich die Genossen des Jugendverbandes einfanden, um uns gemeinsam zum Abfahrtsplatz der Busse zu begeben, die uns und viele andere Atomkraftgegener zur Demonstration in Brokdorf bringen sollten, zu unserem Krieg. Meinen Eltern hinterließ ich einen rechtfertigenden Wisch; so wußten sie wo ich war, und, mir wichtiger, weshalb. Angst hatte ich kaum, denn wenn ich etwas fühlte, dann eine grenzenlose Empörung über Unrecht im Allgemeinen, die sich nun entladen sollte. Mit einsetzender Abenddämmerung erreichte unser Grüppchen den Bauplatz, irrte hier- und dorthin, duckte sich unwillkürlich unterm Knattern der Polizeihubschrauber, hörte die "Mörder! Mörder!"-Rufe, während von beiden Seiten Steine in die gegnerischen Reihen geworfen wurden und war ebenso erschöpft wie erleichtert, als wir am frühen Morgen den Bus erreichten, der uns ins behütete Zuhause zurückbrachte.

Am Sonntagnachmittag sah ich meinen Vater zum letzten Mal lebendig, als er sich, auf meine Mutter gestützt, kreidebleich zur Toilette schleppte. Am Abend wurde er ins Krankenhaus eingeliefert, und im Laufe des Montags, dem 15. November vor 30 Jahren, starb er. Meine Mutter war bei ihm, und er scheint sehr gefasst gewesen zu sein, versöhnt vielleicht mit seinem Leben; jedenfalls dankte er seiner Gemahlin und Gefährtin ihre Anwesenheit und überhaupt alles, und das will schon etwas heißen, denn verstanden haben sie sich nun wirklich nicht immer. Aber die Ewigkeit relativiert alles auf Erden und du siehst deine Kleinlichkeiten (und die großen Verbrechen) als das, was sie sind: nichtig. Alles Leid der Welt um einen Wahn: nichtig und nichtswürdig. Die letzte Wahrheit, die jeder Mensch erfahren muß, ist: wir werden nackt geboren und wir verlassen diese Welt nackt. Alles dazwischen ist Eitelkeit, und das ist ein großes Übel unter der Sonne. Sela.
 

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