1968
aus aller Welt
ballaballa
Beobachtungen in der Natur
charmsing
deutsche kenneweiss
Dicki TV
Dickimerone
Dickis Reisen
die kleine Anekdote
dirty old town
Empfehlung
Erwins Welt
Eugen
in eigener Sache
Java
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
icon

 
Als Kinder spielten wir auf bzw. in der Straße, es gab kaum Verkehr, und die parkenden Autos konnte man an seinen zehn Fingern abzählen, ohne alle zehn gebrauchen zu müssen (innerhalb weniger Jahre wurde es dann zum Geduldsspiel, einen Parkplatz zu finden). Frauen gingen von hier nach dort, um in den Geschäften der Nachbarschaft ihre Einkäufe zu machen, alte Männer mit qualmendem Zigarrenstumpen im Mundwinkel kamen vorbei, und auch ein Invalide in einem hölzernen Gefährt mit drei Rädern, die Antriebshebel mit den Armen vor- und zurückpumpend. Händler sahen wir mit Handkarren oder mit einem Kombi; die verkauften Nordseekrabben ("Granaaat, frischer Granaaat!") sammelten Schrott ein ("Alteisen, Lumpen und Papier!") oder verkauften Eier vom Bauernhof. Oder die Zeitungsverkäufer (Bild am Sonntag, gern genommen wegen der Berichte von der Fußballbundesliga).

Zum nahen Spielplatz wurde ich von Muddi oder meinen Geschwistern gebracht, die Aufsicht geleitete mich dann später über die Hauptstraße zurück, an der es noch nicht die Fußgängerampel gab. In der Spielplatzmitte war eine große Sandkiste, an der eine Rutsche stand, ringsum Bänke, bemalte Betonröhren (gut zum Verstecken), kleine Steinmauern (toll zum Balancieren) und im hinteren Teil Büro und Mehrzweckraum, in welchem ich zum ersten Mal ein Kaspertheater sah. Vor einigen Jahren wurde der Spielplatz endgültig aufgegeben, d.h. abgesperrt, das Grün verwilderte und sproß ungestört vor sich hin. Dann kam der Umbau bei der Straßenbahn, in dessem Zuge der Spielplatz planiert und, von wenigen Bäumen abgesehen, zur Wiese gemacht wurde, die nun freien Blick auf eine der großen Errungenschaften der Menschheit gewährt, den Autoverkehr.

Doch wird schon vor dem Umbau geplant gewesen sein, was nun beschlossen ist und nur noch von der Politik dem businessborniertem Pöbel, der immer "menschenwürdig" und "sozial" dazwischenbölkt, wenn man im Begriff ist, ein gutes Geschäft zu machen, als notwendig und wünschenswert verkauft werden muß: auf dem Gelände des ehemaligen Spielplatzes sollen Parkplätze für das nahegelegene Krankenhaus entstehen; gebührenpflichtig selbstverständlich, denn die Gesundheit der Bürger ist nicht mehr ein Anliegen des Staates, sondern eine Ware, die sich private Unternehmer teuer bezahlen lassen möchten. Nein, ich weine hier keinen Kindheitserinnerungen hinterher, sondern stelle fest, daß wieder ein Stück Lebendigkeit einbetoniert wird - und nur an Lebendigkeit werden wir uns erinnern. Wer hat jemals von schönen Erlebnissen auf Parkplätzen gehört oder setzt sich beschaulich auf eine Bank am Rande solcher Stein-, Beton- oder Asphaltwüste und genießt den Ausblick, atmet freudigen Empfindens die frische Luft?

Eben. Erinnerungen - ganz abgesehen von kürzlichen Spaziergängen und Radfahrten - verbinden mich auch mit der Juliushöhe, dem höchstgelegenen Teil des Stadtwerders, gleich hinter dem Gelände des ehemaligen städtischen Wasserwerks mit seine Anlagen und Becken zur Aufbereitung der Wässer. Dort wohnten die Familien von Egon, Peter und der Geschwister Traute, Birgit und Sohni (dessen richtigen Namen niemand interessierte und den ich nie erfahren konnte). Wir trafen uns im Schwimmverein in einer Weserbucht, spielten im Wasser und am Strand, tranken im Vereinsheim Cola, Sinalco oder Florida Boy (die Erwachsenen an der Theke hatten die typisch bauchigen Flaschen Haake Beck vor sich stehen), schleckten Eis am Stil, spielten Karten, Kriegen, Verstecken und auch mal Tischtennis (Rundlauf war sehr beliebt). Manchmal begleitete ich die Spielkameraden noch in das Kleingartengelände auf der Juliushöhe, bevor wir bis zum nächsten Tag Abschied nahmen.

Wenn ich dort heute unterwegs bin, denke ich natürlich an die Jungs und Mädels, die ich längst aus den Augen verloren habe, und erfreue mich an der Vegetation, die nach wie vor getreulich die Jahreszeiten abbildet, obwohl diese durch den Klimawandel gehörig in Unordnung geraten sind. Damit ist es nächstes Jahr vorbei, man muß auch loslassen können: vor mehr als zehn Jahren wurde die Bebauung geplant, ein satter Reibach lockte, nun endlich sind die Pläne zur Bebauung durchgeboxt, in verbindliche Verträge gegossen worden und die Profite sind fest eingeplant. Ein Luxusviertel aus Häusern voller Eigentumswohnungen wird aus dem fruchtbaren Boden der Parzellen und aus dem Gelände des früheren Wasserwerks gestampft werden inklusive erneuerter und ganz neuer Straßen und der Abholzung gewachsenen Grüns (damit die zukünftigen Bewohner freien Blick die "kleine Weser" haben und die Verkaufspreise desto höher angesetzt werden können). Und, machen wir uns nichts vor, das ist erst der Anfang der Bebauung weiteren Kleingartengeländes in "bester Lage". Nicht für eventuell staatlich geförderten Wohnungsbau für die sogenannten sozial Schwachen, die Mühe haben, erschwingliche Wohnungen zur Miete zu finden, sondern als Prestigeobjekte für gelangweilte Reiche und/oder ihre Schnöselbrut, die keinen Sinn für irgendwelche Schönheit ihrer Umgebung haben/hat oder für den natürlichen Reichtum, der für solch gewinnversprechendes Geschäft vernichtet wird.

Eines gar nicht mehr so fernen Tages wird man Eintritt für die heute noch stadteigenen Grünanlagen bezahlen müssen; und damit daraus auch wirklich ein Geschäft wird, kann die wirtschaftshörige Politikermischpoke gar nicht anders, als die Bürger - im Interesse der Gesundheit! - zu regelmäßigen Besuchen zu zwingen. Dann wird die Stadtverwaltung bereits an eine Bertelsmann-Tochterfirma übertragen worden sein, und die Polizei ist nur noch für die Slums zuständig. Wer es sich leisten kann, bezahlt teure Wachdienste. Und wehe, du begibst dich als armer Schlucker in die Wohnviertel der Gutsituierten ...
pathologe meinte am 4. Okt, 16:20:
Und
Frau Jekylla weist ebenso in einer anderen Stadt daraufhin. Wo sich Architekten austoben duerfen, die bestimmt zu ihren Eltern bei Ansicht eines Loewenzahns "mach's tot!" gerufen haben. Oder einfach keine Beziehung zum realen Leben haben. 
Dicki antwortete am 4. Okt, 23:36:
Maschinen, die auf Gewinn programmiert sind. Dead Souls
 

twoday.net AGB

xml version of this page

powered by Antville powered by Helma