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Der Goethe besichtigt hier in Venedig nicht nur jeden Stein und Wassertropfen, jetzt geht er auch noch jeden Abend ins Theater und tagsüber mal in eine Gerichtsverhandlung, zur Abwechslung. Der Vorleser rezitierte soeben ein Dokument, wodurch einer jener unrechtmäßig geachteten Besitzer über die fraglichen Güter disponierte. Der Advokat hieß ihn langsamer lesen, und als er die Worte deutlich aussprach: "Ich schenke, ich vermache!" fuhr der Redner heftig auf den Schreiber los und rief: "Was willst du schenken? was vermachen? du armer ausgehungerter Teufel! gehört dir doch gar nichts in der Welt an. Doch", fuhr er fort, indem er sich zu besinnen schien, "war doch jener erlauchte Besitzer in eben dem Fall, er wollte schenken, wollte vermachen, was ihm so wenig gehörte als dir." Ein unendlich Gelächter schlug auf, doch sogleich nahm die Sanduhr die horizontale Lage wieder ein. Der Vorleser summte fort, machte dem Advokaten ein flämisch Gesicht; doch das sind alles verabredete Späße.

Natürlich kann ich mir dauernd Theater nicht leisten, also bleibe ich auf meinem Zimmer und nehme die Lektüre von "Tante Julia und der Kunstschreiber" wieder auf. Meine Hoffnung, Geschichte und Hörspiele mögen sich gegenseitig beeinflussen und verwirren, erfüllt sich offensichtlich nicht. Dafür geht die Romanze gut voran, wir halten Händchen und tauschen Küsse im Dunkeln, in den hintersten Reihen limanischer (limatischer? limanesischer?) Lichtspieltheater. Der Hörspielautor offenbart in seinen Serien latenten Wahnsinn. Das sage ich nicht wegen dem fürchterlichen Pathos, mit dem er seine Helden charakterisiert, nicht wegen seines notorischen Argentinierhasses, und auch nicht wegen der die Sensationslust bedienenden Szenen - er hat obendrein den perversen Drang, Abnormitäten zu konstruieren.

Beispielsweise baut ein Junge, dessen Schwester von Ratten gefressen wurde, durch jahrzehntelangen Fleiß und und viel Geduld ein Rattenvernichtungsimperium auf, um schließlich von seiner Frau und den Kindern bestialisch attackiert zu werden. Oder ein Handlungsreisender, dessen Leben zu einem einzigen Absturz gerät, nachdem er ein Mädchen überfahren hat, bis er an eine Therapeutin gerät, die ihm empfiehlt, zu seinem Hass auf Kinder zu stehen, wird zum Schrecken der Kinder seiner Stadt.

In ihrer Absurdität amüsieren mich diese Hörspiele mehr als die eigentliche Geschichte, aber, verdammt nochmal, das sind gar keine Hörspiele! Der Vargas Llosa schreibt reine Prosa, schildert und reflektiert, wo knallhart Dialog stehen müßte: so ein Schummler. - Werden die Hörspiele außer Kontrolle geraten? Wo und wie wird der Wahnsinn des Kunstschreibers offen ausbrechen? Wie lange können der Ich-Erzähler und Tante Julia ihre Romanze noch vor der Familie geheimhalten? Werde ich dieses Buch in Venedig zu Ende lesen können? Wie lange will der Goethe eigentlich hierbleiben?
 

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