Wir haben in den Straßen und Grünanlagen gespielt: jene Kinder aus unserer Straße, die keinen Kindergarten besuchten. Es gab eine Spielplatz in der Nähe, der von einer erwachsenen Person beaufsichtigt wurde und wegen seiner großen Sandkiste, der Rutsche, den Krabbelröhren und Balanciersteinen beliebt war. Wir haben am liebsten unbeaufsichtigt gespielt und kannten jeden verborgenen Pfad, jeden Baum und Strauch in unserer Umgebung. Spielten wir auf der Straße, dauerte es meist nicht lange, bis sich in einem Haus ein Fenster öffnete und eine ältere Person uns ausschimpfte, wir sollten gefälligst auf den Spielplatz gehen. Auf dem Vorplatz des Postamtes spielten wir häufig "Eins-Zwei-Drei-Berliner Schritt!", blieben aber auch dort nicht unbehelligt. Waren wir so unerträglich? War den Menschen anfangs der 60er Jahre Lebendigkeit unerträglich?
Besser und von besonderem Reiz waren die Trümmergrundstücke, jene noch aus den Bombennächten des zweiten Weltkriegs stammenden Lücken zwischen den Häusern. Ruinen wäre dabei zuviel gesagt, obschon sich einzelne Mauerreste fanden. Die Grundstücke waren im wesentlichen von Brennesseln und Kletten, aber auch anderen Sträuchern, Kräutern und Bäumchen überwuchert. Verstecken, Cowboy und Indianer, uns mit Kletten bewerfen oder einfach das Gelände erkunden, das waren unsere Beschäftigungen. Ich habe die Warnungen noch im Ohr, die Finger nicht in den Mund zu stecken, wenn ich etwas angefaßt hätte, es läge dort Rattengift aus.
Direkt neben unserem Mietshaus war eine solche Lücke, zunächst frei zugänglich, dann teilweise durch eine Plakatwand versperrt, schließlich durch einen Bauzaun geschlossen, womit einer unserer "natürlichen" Spielplätze verschwand. Ich beobachtete oft die Bauarbeiten, meist im Vorübergehen, und erinnere mich noch, wie das Fundament, die Kellerwände und der Boden des Erdgeschosses gegossen wurden. Die Mischer kamen auf das Grundstück gefahren und ein Arbeiter stemmte den langen Schlauch über die Formen, während der Beton herauspladderte. In dicken Gummistiefeln wateten andere Arbeiter durch den grauen Morast und dirigierten mit Schaufeln das Zähflüssige in alle Ecken und Winkel. Dann wurde gemauert. Einmal bot mir ein Maurer an, ihm für fünf Pfennig das Stück Ziegel zu reichen, aber ich war nicht geschäftstüchtig. Vielleicht hatte ich auch keine Lust, zu arbeiten. Als Fünfjähriger?
Im Herbst war das neue Wohnhaus fertig und die ersten Mieter zogen ein. Wenige Jahre später, ich lag gerade mit einer fiebrigen Erkältung im Bett, hörte ich, daß sich in diesem Nachbarhaus eine Frau, die rothaarige Oberschimpferin unserer Straßenspiele, umgebracht hatte. Was mag sie für eine Geschichte gehabt haben? Die Vergangenheit blieb gegenwärtig, auch in den geschichtslosen Neubauten.
Auch in den Nachbarstraßen gab es Trümmergrundstücke. Von einem gelangte man auf den Gang, der zwischen den Hinterhöfen hindurchführte. Terra incognita. Wie die ersten Entdecker schlichen wir in den Gang - und wurden sofort verscheucht. Neulich, bei einem Spaziergang, sah ich, daß dies Grundstück, als einziges weit und breit, immer noch unbebaut und mittlerweile völlig verwildert ist. Der Versuchung, es zu erkunden, konnte ich widerstehen. Ich wollte die Erinnerungen unangetastet lassen; eine heile Ruinenwelt in der allgegenwärtigen Zerstörung des Lebendigen.
Besser und von besonderem Reiz waren die Trümmergrundstücke, jene noch aus den Bombennächten des zweiten Weltkriegs stammenden Lücken zwischen den Häusern. Ruinen wäre dabei zuviel gesagt, obschon sich einzelne Mauerreste fanden. Die Grundstücke waren im wesentlichen von Brennesseln und Kletten, aber auch anderen Sträuchern, Kräutern und Bäumchen überwuchert. Verstecken, Cowboy und Indianer, uns mit Kletten bewerfen oder einfach das Gelände erkunden, das waren unsere Beschäftigungen. Ich habe die Warnungen noch im Ohr, die Finger nicht in den Mund zu stecken, wenn ich etwas angefaßt hätte, es läge dort Rattengift aus.
Direkt neben unserem Mietshaus war eine solche Lücke, zunächst frei zugänglich, dann teilweise durch eine Plakatwand versperrt, schließlich durch einen Bauzaun geschlossen, womit einer unserer "natürlichen" Spielplätze verschwand. Ich beobachtete oft die Bauarbeiten, meist im Vorübergehen, und erinnere mich noch, wie das Fundament, die Kellerwände und der Boden des Erdgeschosses gegossen wurden. Die Mischer kamen auf das Grundstück gefahren und ein Arbeiter stemmte den langen Schlauch über die Formen, während der Beton herauspladderte. In dicken Gummistiefeln wateten andere Arbeiter durch den grauen Morast und dirigierten mit Schaufeln das Zähflüssige in alle Ecken und Winkel. Dann wurde gemauert. Einmal bot mir ein Maurer an, ihm für fünf Pfennig das Stück Ziegel zu reichen, aber ich war nicht geschäftstüchtig. Vielleicht hatte ich auch keine Lust, zu arbeiten. Als Fünfjähriger?
Im Herbst war das neue Wohnhaus fertig und die ersten Mieter zogen ein. Wenige Jahre später, ich lag gerade mit einer fiebrigen Erkältung im Bett, hörte ich, daß sich in diesem Nachbarhaus eine Frau, die rothaarige Oberschimpferin unserer Straßenspiele, umgebracht hatte. Was mag sie für eine Geschichte gehabt haben? Die Vergangenheit blieb gegenwärtig, auch in den geschichtslosen Neubauten.
Auch in den Nachbarstraßen gab es Trümmergrundstücke. Von einem gelangte man auf den Gang, der zwischen den Hinterhöfen hindurchführte. Terra incognita. Wie die ersten Entdecker schlichen wir in den Gang - und wurden sofort verscheucht. Neulich, bei einem Spaziergang, sah ich, daß dies Grundstück, als einziges weit und breit, immer noch unbebaut und mittlerweile völlig verwildert ist. Der Versuchung, es zu erkunden, konnte ich widerstehen. Ich wollte die Erinnerungen unangetastet lassen; eine heile Ruinenwelt in der allgegenwärtigen Zerstörung des Lebendigen.
Dicki - am Di, 09. August 2005, 2:25 - Rubrik: dirty old town