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scheint mir diese Überschrift bei SpOn: Merkel nennt Haines-Enthauptung menschenverachtend. Da wird unserer teuren Angela eine Banalität angedichtet, die - die - jetzt fehlen mir doch tatsächlich die Worte.

Gottfried John tot. Mir ist er nicht nur als unverwechselbares Gesicht in diversen Filmen in Erinnerung, sondern auch und nicht zuletzt, weil er zum 82jährigen Anthony Quinn, den er bei der Bambi-Verleihung begleitete, sagte: "I adore you very much", was Herr Quinn, soeben stolzgeschwellter Vater seines - ich glaube - siebten Kindes leicht misinterpretiert haben mag. I adore Gottfried John für diese freimütige Äußerung der Verehrung eines großen und leider unterschätzten Kollegens. Es ist so - diese Charaktere wachsen nicht nach, sie sind für immer dahin. Wer das gut findet, soll sich getrost Ersatzteile implantieren lassen und fortan besser funktionieren.

An diesem Morgen dachte er: war die Welt jemals so, wie ich sie als Kind und als Jugendlicher und als Heranwachsender glaubte? Oder war sie nicht schon bei meiner Geburt so, wie sie heute ist, nur weniger offensichtlich? Und bin nicht ich und sind nicht viele meiner Altersgenossen von meinen und ihren Eltern für eine Welt erzogen worden, die es damals schon nicht mehr gab, einfach aus einer Tradition der Menschlichkeit? Und ist diese Tradition nicht antiquiert und hindert uns daran, in dieser Welt, wie sie wirklich ist und schon zur Zeit unserer Geburt war - nur weniger offensichtlich -, erfolgreich zu sein?

Und während er in der Geborgenheit eines wohltemperierten Bades lag, erinnerte er sich des kleinen Querulanten in der Kinderschar auf der Straße, der immer ein Extra hatte haben wollen, zurechtgewiesen wurde, und dann quäkend nach seiner Mutter lief; der immerzu glaubte, ihm werde etwas vorenthalten, auf das er Anspruch hätte, einfach weil er es haben wollte. Die Ich-Monster, dachte er, die Ich-Monster lenken die Welt und beherrschen den Alltag; den schwarzen Löchern des Alls verwandt saugen sie alles auf und geben nichts ab. Sie verkörpern aber nicht nur die Gier, sondern alle sieben Todsünden, und die Kirche hat uns nicht vor ihnen bewahren können, weil die Kirche - als Apparat gesehen, nicht als Heilsidee, das freilich nicht - selbst infiziert war von Anfang an: ein System von Glaubenssätzen den Ungläubigen, dem sie sich nur anpassen brauchten, um Macht und damit Nahrung für ihre nimmersatte Gier zu finden. Alles Geistige, alles Naturgegebene, alles Erfreuliche und alles Leidbringende, alles Lebendige ist ihnen nichts es sei denn Nahrung für ihre nie versiegende Gier.

Aber vielleicht, dachte er während des Ankleidens, liegt die Wurzel des Übels viel tiefer. Vielleicht liegt das Scheitern der Idee Mensch nicht speziell an den Apparatschiks, an den Eichmanns, an den Lebenssimulanten, an den Ich-Monstern: sondern im Menschsein selbst begründet. Denn, so begleitete sein Gedankenstrom das Brummen des Rasierers, Menschen sind von Haus aus Sippentiere. Ja, Sippen-, nicht Herdentiere, obwohl diesen verwandt. Für einen Moment konzentrierte er sich auf die Zubereitung des Morgenkaffees.

Sippentiere, das heißt: geboren für das Leben in einer überschaubaren Gemeinschaft. Offen, das heißt prägbar, für deren Regeln, wie immer diese sein mochten. Und in Konkurrenz mit anderen Sippen um Futtergründe. Denn zuerst ist der Mensch ein Tier und kann seine Ahnen nicht verleugnen. Daß er es dennoch tut, ist Teil des Problems, es ist die verlorene Unschuld, die Vertreibung aus dem Paradies. Und Kain erschlug Abel im Streit um die besseren Lebensbedingungen. Und die Menschen erwiesen sich nicht nur als fruchtbar, sondern sie mehreten sich ohne Ende. Und die Sippen wurden zu Völkern in Städten und in Regionen, und sie unterwarfen ihre Nachbarn und schufen Imperien; diese waren nicht heterogen und zerfielen, was weder Kult noch Ideologie, nicht Drohung oder Gewalt auf Dauer verhindern konnten.

Er musterte seine Uniform im Spiegel und griff nach der Waffe. Ja, dachte er, die Spezies Mensch scheitert an ihrem Erfolg, scheitert daran, daß sie für einen begrenzten Lebensraum und eine begrenzte Gemeinschaft - naja: geschaffen wurde, aber dank ihres Geistes, der diese Grenzen durch Wissenschaft und Technik sprengte, ohne die Folgen ermessen und abwägen zu können, über ihren Wahrnehmungshorizont hinausgewachsen ist, ohne dies verarbeiten zu können. Die Massengesellschaft, speziell ihre Institutionen, die Technik und speziell die Industrialisierung, hat die Ich-Monster begünstigt und begünstigt sie mehr und mehr; das ist ein sich selbst verstärkender Prozeß. Er lud die automatische Waffe durch und entsicherte sie.

Gestern habe ich getötet, heute werde ich töten, und morgen wird des Tötens auch kein Ende sein. Ich werde pünktlich zu meiner Einheit stoßen und wir werden die Unmenschen ausmerzen. Jene Unmenschen, für die wir auch nur Unmenschen sind. Wir alle, und auch die Unmenschen, sind in diesem System gefangen, das im Stadium der völligen Verblödung dem final countdown entgegensiecht. Und er dachte: ich will nicht, daß irgendjemand, Mensch oder Unmensch, an mir schuldig wird. Noch ist die Welt, für die ich in menschlicher Tradition erzogen wurde, wenigstens zu einem Teil in mir lebendig. Bevor der letzte Rest erstirbt, will ich mich dem Irrsinn verweigern: um die Idee Mensch zu retten. Obwohl das keine Rettung ist. Aber ein anderer Weg bleibt mir nicht; kein anderer Weg, mit dem ich leben oder sterben könnte.

Er richtete die Waffe gegen sich und drückte ab.

Sintemalen es aber eine gerechte Sache ist, die Mörder und Kirchenschänder und Giftmischer zu strafen, kann die Vergießung ihres Blutes füglich auch nicht Mord genannt werden. Insgleichen ist nicht grausam, wer die Grausamen vernichtet. Und wer die Bösen vertilgt, um dess' willen, daß sie böse sind, und hat Grund, sie zu tilgen, der dienet dem Herrn. So sprach Bischof Petrus von Oporto am 17. Juni des Jahres 1147, um das christliche Heer auf die Vertreibung der Sarazenen aus der Stadt Lissabon einzustimmen. Und so haben sie immer gesprochen, wenn Mord und Totschlag gerechtfertigt werden mußten, zum Nutzen der einen oder anderen Macht. Dem Feind wird das Menschsein abgesprochen, dann braucht man sich gegen ihn auch nicht menschlich verhalten.

What was, it will be

So ist es, und so wird es sein

If it's not love
then it's the bomb
the bomb, the bomb, the bomb
that will bring us together

Von einem Musical, zudem mit politischen Bezügen, kann man nicht Tiefe erwarten wie bei Komödie und Tragödie, schon aber Spektakel. Und die aktuelle Bremer Inszenierung von "Hair" bietet es, mit Tanz, (Chor)Gesang, Maske, Interviewprojektionen und Bauten. Die Botschaft ist bei mir allerdings nicht angekommen - vielleicht sträubte sich meine Wahrnehmung einfach gegen das Gemisch aus deutsch und englisch -, was besser sein mag als eine klar vernehmliche Botschaft, die peinlich wäre. Wie zum Beispiel, wenn das demonstrative "Do-do-do-do-do-do-do-it!" der vorletzten Gesangseinlage als Aufforderung zu verstehen sei, eigene alternative Lebensformen zu entwickeln wie die interviewten Leute der Filmeinspielungen. Doch dazu später.

Gesanglich, tänzerisch, instrumental, darstellerisch und choreographisch ist die Inszenierung unterhaltsames Spektakel; wenn es keine action gibt, wird zumindest gesungen, der zentrale Bühnenbau - eine zweigeschossige Villa irgendwie alternativen Gepräges - wird mehrmals herumgedreht, jede seiner vier offenen Seiten, ebenso die Terrasse um den kleinen Bau im Obergeschoß, wird als Bühne in der Bühne genutzt, man sieht etwas vom täglichen Leben in dieser Unterkunft: das ist hübsch gemacht und bietet Abwechslung, gelegentlich werden besagte Interviews parallel eingeblendet, oder eine der beiden Kameras in der Villa liefert Bild und Ton. Unterhaltsam ist es, aktualisiert ist es, was will man mehr von diesem "Hair".

Weniger hätte ich bei den neuen Arrangements der alten Songs erhofft, nämlich weniger Handwerk, dafür mehr Inspiration. Ich erinnere mich an eine Stelle, wo der Chor an Kraft gewann, Oberstimme und Unterstimme gegeneinander gesetzt, jetzt hätte es ergreifend werden müssen, aber es blieb seicht, weil Technik nicht Gefühl ersetzen kann. Auch fehlte manchen der neuen Arrangements der rechte Fluß, oder sagen wir drive, weil es offenbar an Pop-Verständnis mangelt, andere gerieten zu Mitklatschnummern. Aber das kommt einem Publikum entgegen, das Spektakel will, und so gesehen ist das auch in Ordnung. Eine gelungene Aufführung also, der auch langanhaltend Applaus gespendet wurde.

Der aktuelle Bezug des alten, erneuerten "Hair" war das Leben Alternativer, die in den besagten Interviews ihre Lebensgestaltung auf dem Lande oder in der WG schilderten, von gemeinsamer Kasse, von Demoteilnahme oder von Kompostklos erzählten. Mal meinte ich in der Spielhandlung eine Persiflage, mal eine Bejahung dieser Dropouts und Außenseiter wahrzunehmen, am Ende blieb es trotz "Do-do-do-do-do-do-do-it!" unentschieden.

Oder doch nicht ganz. Denn heimlich, still und leise lief während der letzten, intensiven Aktionen auf der Bühne auf den beiden seitlichen Leinwänden noch ein Film. Die meisten der Interviewten waren einzeln und in Gruppen zusammen mit dem Hauptdarsteller zu sehen, auf einem ausladenden Bett, hinter dem an der Wand zwei Zettel angebracht waren: "hair peace" und "bed peace". Und da konntest du deutlich sehen, worum es wirklich geht - die Politleute probieren aus, wer sie sein könnten, der Schauspieler lebt; sie spielen, er ist. So steht es in den Gesichtern geschrieben für alle, die des Lesens mächtig sind.

 

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