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Dickis Reisen

Das hätte mich aber auch gewundert! Natürlich gibt es hier Touristen. Und weil die Einsamkeit in einer so großen Menschenmasse denn doch zuletzt nicht recht möglich sein will, so bin ich mit einem alten Franzosen zusammengekommen, der kein Italienisch kann, sich wie verraten und verkauft fühlt und mit allen Empfehlungsschreiben doch nicht recht weiß, woran er ist. Ein Mann von Stande, sehr guter Lebensart, der aber nicht aus sich heraus kann [...] Er ist nun acht Tage hier und geht morgen fort. Es war mir köstlich, einen recht eingefleischten Versailler in der Fremde zu sehen. Der reist nun auch! Und ich betrachte mit Erstaunen, wie man reisen kann, ohne etwas außer sich gewahr zu werden [...]

Nun steht es fest: am 14. Oktober will Goethe Venedig verlassen. Ein Blick zurück: Gott sei Dank, wie mir alles wieder lieb wird, was mir von Jugend auf wert war! Wie glücklich befinde ich mich, daß ich den alten Schriftstellern wieder näherzutreten wage! Denn jetzt darf ich es sagen, darf meine Krankheit und Torheit bekennen. Schon einige Jahre her durft' ich keinen lateinischen Autor ansehen, nichts betrachten, was mir ein Bild Italiens erneuerte. Geschah es zufällig, so erduldete ich die entsetzlichsten Schmerzen. [...] Ich bin nur kurze Zeit in Venedig und habe mir die hiesige Existenz genugsam zugeeignet und weiß, daß ich, wenn auch einen unvollständigen, doch einen ganz klaren und wahren Begriff mit wegnehme.

Und gleich sind wir auf dem Weg nach Rom. Endlich wieder unterwegs! Ich fühlte mich schon, als seien mir Fußeisen angelegt.

Eine Ladentür öffnet sich knarrend-quietschend, die Türglocke erklingt, man hört das Rumpeln einer Straßenbahn, Motorengeräusche, Reifengrollen. Die Tür wird geschlossen, die Straßengeräusche dringen gedämpft herein.
Rosi Gezeiten: Guten Tag.
Virja Reszeiten: Moin.
Herr Schaftszeiten: Guten Tag.
Bernd: Hallo, Tante Rosi. (Fahrradhupe)
V.R.: Also, ich sach grade, diese Italienfahrt macht mich ganz perplex, sind wir jetzt in Venedich, in Peru, oder wo?
H.S.: Na, diese Serie ...
R.G.: Natürlich, natürlich. Wo diese Hörspiele durcheinandergehen, Dicki kein Geld fürs Theater hat und Tante Julia und der Junge ... Die Julia hat ihren Romeo geheiratet, stellen Sie sich mal vor.
V.R.: Nein!
R.G.: Doch! Und der Vater des Jungen läuft mit einem Revolver herum und kriegt sich gar nicht mehr ein. Ist das nicht romantisch?
H.S.: Na ja.
Bernd: Peng! Peng! (Zündplätzchenpistole)
V.R.: Och, issas aufregend. Mein Herrmann würd sich sowas nich traun.
R.G.: Aber der Hörspielschreiber ist durchgedreht. Hat alle seine Figuren ermordet, eine Katastrophe schrecklicher als die nächste. Nur so ist eine Neuanfang möglich! hat er geschrien, mein Gedächtnis läßt mich im Stich, ich muß dieses Chaos Herr werden! Da haben sie ihn eingesperrt.
H.S.: Na endlich.
V.R.: Wer sich das bloß immer alles ausdenken tut?!
Gattin: (aus dem Hintergrund) Männe, mach das Radio an, die nächste Foll-gää!
H.S.: Na sowas.
R.G.: (mit Blick auf die Uhr) Schon fast vorbei!
Radio: (knistert) Die Ehe mit Tante Julia war ein richtiger Erfolg und dauerte sehr viel länger, als alle Verwandten und sogar sie selbst gefürchtet, gewünscht oder vorausgesehen hatten, nämlich acht Jahre. (Titelmusik)
V.R.: Schiete, das ist das Ende.
R.G.: Zu dumm, jetzt haben wir die große Versöhnung verpasst.
Radio: Hören Sie nun aus unserer beliebten Reihe "Italienische Reise" von der wahre Dicki nach einer Idee von Der wahre Goethe die elfte Folge.
Bernd: Papa, wenn ich groß bin, will ich auch Dicki sein! (Murmelklickern)
V.R.: Isser nich goldich?!
(Titelmusik)
Ansager: Aus der Reihe "Durch Dicki und Dünni" hörten Sie die dreiundsiebzigste Folge mit dem Titel "Italienische Reise zehnkommafünf".

Was bisher geschah: Goethe nimmt am 3. September 1786 die Postkutsche nach Italien und erreicht am 28ten desselben Monats glücklich Venedig, das er eingehend studiert. Ich nutze die Mußestunden, um "Tante Julia und der Kunstschreiber" von Mario Vargas Llosa zu lesen.

Was bisher geschah: Der 18jährige Ich-Erzähler lernt in Lima, Peru, seine 32jährige geschiedene Tante kennen und lieben, sie treffen sich hinter dem Rücken der Familie, halten Händchen und küssen sich. Der Radiosender, bei dem der Erzähler als Nachrichtenredakteur arbeitet, stellt einen in Bolivien gefeierten Hörspielschreiber ein, dessen Serien trotz oder gerade wegen seines Hangs zu Perversionen sehr erfolgreich sind.

Wie es weitergeht: Wegen abfälliger Bemerkungen, etwa, in Argentinien sei es Sitte, die Notdurft notdürftig in einen Eimer neben der Kochstelle zu verrichten, gibt es eine Protestnote des argentinischen Botschafters, und nur der große Erfolg beim Publikum bis hinauf zum Staatspräsidenten kann das drohende Verbot der Hörspielserien abwenden. Zunehmend aber verirren sich Figuren aus einer Serie in eine andere; der Schreiber, gewissermaßen mit dem Erzähler befreundet, gesteht diesem seine Verwirrung und zeitweilige Hilflosigkeit ein. Unterdessen stellt sich heraus, daß die Familie längst von der Romanze weiß und die Eltern verständigt hat, die wutschnaubend nach Lima zurückkehren wollen, um das Paar zu trennen.

Fluchtpläne werden geschmiedet: der Hörspielautor beginnt, seine Figuren in ausgesuchten Katastrophen zu vernichten, um dem Phänomen der "Seelenwanderung" zwischen den verschiedenen Serien zu entkommen; die Liebenden wollen, unter Zuhilfenahme von Betrug und Bestechung, ihr Verhältnis durch Heirat legalisieren, um die Eltern des Erzählers vor unverrückbare Tatsachen zu stellen.

Bei soviel Dramatik kommt mir eine Abwechslung sehr gelegen. Nun endlich kann ich denn auch sagen, daß ich eine Komödie gesehen habe! Sie spielten heut' auf dem Theater St. Lukas "Le Baruffe Chiozzotte", welches allenfalls zu übersetzen wäre: "Die Rauf- und Schreihändel von Chiozza". Die Handelnden sind lauter Seeleute, Einwohner von Chiozza, und ihre Weiber, Schwestern und Töchter. Das gewöhnliche Geschrei dieser Leute im Guten und Bösen, ihre Händel, Heftigkeit, Gutmütigkeit, Plattheit, Witz, Humor und ungezwungene Manieren, alles ist gar brav nachgeahmt. Das Stück ist noch von Goldoni, und da ich erst gestern in jener Gegend war und mir Stimmen und Betragen der See- und Hafenleute noch im Aug' und Ohr wiederschien und widerklang, so machte es gar große Freude [...]. Aber auch so eine Lust habe ich noch nie erlebt, als das Volk laut werden ließ, sich und die Seinigen so natürlich vorstellen zu sehen. Ein Gelächter und ein Gejauchze von Anfang bis Ende.

Der Goethe besichtigt hier in Venedig nicht nur jeden Stein und Wassertropfen, jetzt geht er auch noch jeden Abend ins Theater und tagsüber mal in eine Gerichtsverhandlung, zur Abwechslung. Der Vorleser rezitierte soeben ein Dokument, wodurch einer jener unrechtmäßig geachteten Besitzer über die fraglichen Güter disponierte. Der Advokat hieß ihn langsamer lesen, und als er die Worte deutlich aussprach: "Ich schenke, ich vermache!" fuhr der Redner heftig auf den Schreiber los und rief: "Was willst du schenken? was vermachen? du armer ausgehungerter Teufel! gehört dir doch gar nichts in der Welt an. Doch", fuhr er fort, indem er sich zu besinnen schien, "war doch jener erlauchte Besitzer in eben dem Fall, er wollte schenken, wollte vermachen, was ihm so wenig gehörte als dir." Ein unendlich Gelächter schlug auf, doch sogleich nahm die Sanduhr die horizontale Lage wieder ein. Der Vorleser summte fort, machte dem Advokaten ein flämisch Gesicht; doch das sind alles verabredete Späße.

Natürlich kann ich mir dauernd Theater nicht leisten, also bleibe ich auf meinem Zimmer und nehme die Lektüre von "Tante Julia und der Kunstschreiber" wieder auf. Meine Hoffnung, Geschichte und Hörspiele mögen sich gegenseitig beeinflussen und verwirren, erfüllt sich offensichtlich nicht. Dafür geht die Romanze gut voran, wir halten Händchen und tauschen Küsse im Dunkeln, in den hintersten Reihen limanischer (limatischer? limanesischer?) Lichtspieltheater. Der Hörspielautor offenbart in seinen Serien latenten Wahnsinn. Das sage ich nicht wegen dem fürchterlichen Pathos, mit dem er seine Helden charakterisiert, nicht wegen seines notorischen Argentinierhasses, und auch nicht wegen der die Sensationslust bedienenden Szenen - er hat obendrein den perversen Drang, Abnormitäten zu konstruieren.

Beispielsweise baut ein Junge, dessen Schwester von Ratten gefressen wurde, durch jahrzehntelangen Fleiß und und viel Geduld ein Rattenvernichtungsimperium auf, um schließlich von seiner Frau und den Kindern bestialisch attackiert zu werden. Oder ein Handlungsreisender, dessen Leben zu einem einzigen Absturz gerät, nachdem er ein Mädchen überfahren hat, bis er an eine Therapeutin gerät, die ihm empfiehlt, zu seinem Hass auf Kinder zu stehen, wird zum Schrecken der Kinder seiner Stadt.

In ihrer Absurdität amüsieren mich diese Hörspiele mehr als die eigentliche Geschichte, aber, verdammt nochmal, das sind gar keine Hörspiele! Der Vargas Llosa schreibt reine Prosa, schildert und reflektiert, wo knallhart Dialog stehen müßte: so ein Schummler. - Werden die Hörspiele außer Kontrolle geraten? Wo und wie wird der Wahnsinn des Kunstschreibers offen ausbrechen? Wie lange können der Ich-Erzähler und Tante Julia ihre Romanze noch vor der Familie geheimhalten? Werde ich dieses Buch in Venedig zu Ende lesen können? Wie lange will der Goethe eigentlich hierbleiben?

Und weiter geht es durch Gassen, über Brücken, entlang Kanälen. Ich suchte mich in und aus diesem Labyrinth zu finden, ohne irgend jemand zu fragen, mich abermals nur nach der Himmelsgegend richtend, Man entwirrt sich wohl endlich, aber es ist ein unglaubliches Gehecke ineinander, und meine Manier, sich recht sinnlich davon zu überzeugen, die beste. Auch habe ich mir bis an die letzte bewohnte Spitze der Einwohner Betragen, Lebensart, Sitte und Wesen gemerkt; in jedem Quartiere sind sie anders beschaffen. Du lieber Gott! was doch der Mensch für ein armes, gutes Tier ist!

Leider macht uns auch ein altbekanntes leidiges Thema zu schaffen, das mit dem Tiersein des Menschen zusammenhängt. Ich ging und besah mir die Stadt in mancherlei Rücksichten, und da es eben Sonntag war, fiel mir die große Unreinlichkeit der Straßen auf, worüber ich meine Betrachtungen anstellen mußte. Es ist wohl eine Art von Polizei in diesem Artikel, die Leute schieben den Kehrig in die Ecken, auch sehe ich große Schiffe hin und wider fahren, die an manchen Orten stille liegen und den Kehrig mitnehmen, Leute von den Inseln umher, welche des Düngers bedürfen; aber es ist in diesen Anstalten weder Folge noch Strenge, und desto unverzeihlicher die Unreinlichkeit der Stadt, da sie ganz zur Reinlichkeit angelegt worden, so gut als irgendeine holländische. [...] Ich konnte nicht unterlassen, gleich im Spazierengehen eine Anordnung deshalb zu entwerfen und einem Polizeivorsteher, dem es Ernst wäre, in Gedanken vorzuarbeiten. So hat man immer Trieb und Lust, vor fremden Türen zu kehren.

Genug davon. Denn trotzdem ist die Welt voller Wunder, wenn man sich nur wundern kann. Ich wende mich in meiner Erzählung nochmals ans Meer, dort habe ich heute die Wirtschaft der Seeschnecken, Patellen und Taschenkrebse gesehen und mich herzlich darüber gefreut. Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!

Vor 20 Jahren bin ich mal durch den Orient gereist, ähnlich wie jetzt durch Italien. Darüber wollte ich damals ein Buch unter dem Pseudonym Hadschi Halef Omar schreiben: "Meine Reisen mit Kara Ben Nemsi Efendi", aber ich war nicht Dicki genug, es zu unternehmen. Klar mußte ich an Karl May denken, und wie der seinen Orient zusammenphantasiert und aus Enzyklopädien herauskondensiert hat. Sowas gibt's bei Goethe nicht. Wenn der sagt, ich bin hier in Pisa meinetwegen, dann ist er dort auch, und wenn er uns erzählt, er hat da so nen komischen Turm angeguckt, dann ist er wirklich davorgestanden.

Inzwischen ist er - sind wir - in Venedig und er ist völlig aus dem Häuschen. So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmal, aus der Brenta in die Lagune einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich, den Todfeind von Wortschällen, geängstigt hat. Er ist so außer sich vor Glück und Erwartung, daß er nach Worten ringt wie unsereiner um Atem. Venedig ...

Nach Tische eilte ich, mir einen ersten Eindruck des Ganzen zu versichern, und warf mich ohne Begleiter, nur die Himmelsgegenden merkend, ins Labyrinth der Stadt, welche, obgleich durchaus von Kanälen und Kanälchen durchschnitten, durch Brücken und Brückchen wieder zusammenhängt. Die Enge und Gedrängtheit des Ganzen denkt man nicht, ohne es gesehen zu haben. Gewöhnlich kann man die Breite einer Gasse mit ausgestreckten Armen entweder ganz oder beinahe messen, in den engsten stößt man schon mit den Ellbogen an, wenn man die Hände in die Seite stemmt; es gibt wohl breitere, auch hie und da ein Plätzchen, verhältnismäßig aber kann alles enge genannt werden.

Nachdem ich müde geworden, setzte ich mich in eine Gondel, die engen Gassen verlassend, und fuhr [ ... ] den Kanal der Giudecca herein, bis gegen den Markusplatz, und war nun auf einmal ein Mitherr des Adriatischen Meeres, wie jeder Venezianer sich fühlt, wenn er sich in seine Gondel legt. Ich gedachte dabei meines guten Vaters in Ehren, der nichts Besseres wußte, als von diesen Dingen zu erzählen. Wird mir's nicht auch so gehen? - Glücklicher Goethe!

In Wahrheit hat es gar nicht an der Tür geklopft, das habe ich nur um des dramatischen Effekts willen geschrieben. Stattdessen klingelte das Telefon und ich wurde zu einer Party eingeladen; das "Atelier Krake" feierte sein zweijähriges Bestehen. Mit Fleiß und Liebe hatten sie gestaltet: eigens gedruckte, ausgeschnittene und aufgeklebte Etiketten machten aus einem ordinären Bier exklusives "Krake-Beck", in der großen Tombola gab es Badelatschen, Bierfilz, Eierwärmer, Aschenbecher, Notizbücher, Unterhemden, Jojos, Krakauer und Pulswärmer zu gewinnen, alles in irgendeiner Weise auf schwarzweiße Krake getrimmt. Der Hauptgewinn war ein selbstgenähtes Kissen - natürlich in Krakenform. Wie bei Tombolas üblich hab ich nichts gewonnen; davon abgesehen war es ein krakemäßig guter Abend.

Inzwischen ist auch der Goethe wieder zurück, schweigt sich aber darüber aus, wo und wie (!) er die letzten Tage verbracht hat. Na, das kann ich auch und erzähle nichts von Fremdlektüre und Feier. Schon bald sind wir in Padua und absolvieren Kirchen, Universität, Rathaus, eine Buchhandlung und das Observatorium, das zum Rundumblick einlädt, und: Am Horizont sah ich ganz deutlich den Markusturm zu Venedig und andere geringere Türme.

Venedig lockt, es gibt kein Halten mehr. Nun wäre auch hier wieder einmal eingepackt, morgen früh geht es zu Wasser auf der Brenta fort. Heute hat's geregnet, nun ist's wieder ausgehellt, und ich hoffe, die Lagunen und die dem Meer vermählte Herrscherin bei schöner Tageszeit und aus ihrem Schoß meine Freunde zu begrüßen. Denen er, wir erinnern uns, vor knapp vier Wochen in Karlsbad ausgebüxt ist. Ob er wohl mehr als ein paar Ansichtspostkarten zustande bringt? Ich hab vergessen, wie die auf italienisch heißen, aber Briefmarken weiß ich noch: Francobolli. Die ich mit "Frankierknöllchen" übersetzen würde. Das ist schon ein seltsames Völkchen dort, südlich der Alpen.

Reisen und Lesen gehören für mich zusammen, und Mußestunden für die mitgenommene Lektüre finden sich immer. Goethe hat sich verdrückt, na und?! Nach der ersten Verblüffung und ein paar Unternehmungen in der Stadt habe ich in meine kleine Reisebibliothek gelangt und mir "Tante Julia und der Kunstschreiber" von Mario Vargas Llosa vorgenommen, das ich schon längst mal wieder gelesen haben wollte. Sonst bevorzuge ich unterwegs mir unbekannte Bücher, aber: kein Geld für Reisen heißt eben auch: kaum Geld für neue Bücher.

Der Kontrast ist erstmal ein bißchen verwirrend. Eben noch in Italien, befinde ich mich plötzlich im Peru Mitte der Fünfziger. Der Ich-Erzähler war damals 18 Jahre jung, arbeitete bei einem kleinen Rundfunksender, lernte seine geschiedene Tante Julia kennen und erlebte die Katastrophe um den neuen Star unter den Verfassern von Hörspielserien mit. Der Jüngling wird von der Verwandtschaft als Intellektueller bezeichnet (weil eine Zeitung mal eine Kurzgeschichte von ihm brachte), er recherchiert und spricht die Nachrichten zusammen mit einem Freund (sie schreiben Zeitungsmeldungen um und nehmen die Nachrichten vorher auf, so daß sie viel freie Zeit haben), zwischen der Tante und ihm ist sofort eine Spannung spürbar, und die Hörspiele, bisher von einem großen Sender nach Manuskriptgewicht teuer eingekauft - jawohl, nach Gewicht -, sollen ab sofort von einem geradezu genialen Verfasser geschrieben werden.

Ein kleines, unscheinbares Wesen, etwas zwischen einem kleinen Mann und einem Zwerg, mit einer gewaltigen Nase und außerordentlich lebhaften Augen, in denen etwas Exzessives funkelte. Es trug einen schwarzen, sehr abgenutzten Anzug, sein Hemd und seine Schleife hatten Flecken, doch in der Art , wie es seine Kleidung trug, lag etwas Sauberes, Ordentliches, etwas Strenges, wie bei diesen Herren auf den alten Fotografien, die in ihren steifen Überröcken und zu engen Zylindern gefangen zu sein scheinen. Der Mann konnte dreißig Jahre alt sein, aber auch fünfzig; sein schwarzes Haar reichte ihm bis auf die Schultern und glänzte ölig. Seine Haltung, seine Bewegungen, sein Gesichtsausdruck wirkten wie eine Verhöhnung alles Spontanen und Natürlichen und erinnerten an eine Gliederpuppe, an eine Marionette.

Im zweiten Kapitel steckt man unversehens in einer der neuen Serien. Ob sich allmählich Geschichte und Hörspiel vermischen und beeinflussen werden? Im Groben und Ganzen weiß ich noch, wie alles kommen wird, aber auf die einzelnen Entwicklungen bin ich doch sehr gespannt, da mag Herr Goethe ruhig noch ein wenig fortbleiben. - Oh, es klopft an der Tür. "Avanti!"

Herr Goethe, so sollte man es sehen, ist nach Jahren des Sehnens und Wünschens endlich in seinem gelobten Land der Kunst und der Künste angekommen, und er möchte alles auf einmal schauen. Wahrscheinlich wird er keine Ruhe finden, ehe wir nicht in Rom oder wenigstens Venedig angelangt sind. So warf er sich hier in Vicenza in Ausstellungen, die Universität, das Rathaus, eine Versammlung gar zu dem Thema, ob Erfindung oder Nachahmung den schönen Künsten mehr Vorteil gebracht habe.

Zeit für ein kleines Résumé: Ich habe erst die zwei italienischen Städte gesehen [Verona und Vicenza] und mit wenig Menschen gesprochen, aber ich kenne meine Italiener schon gut. Sie sind wie Hofleute, die sich fürs erste Volk in der Welt halten und bei gewissen Vorteilen, die man ihnen nicht leugnen kann, sich's ungestraft und bequem einbilden können. [...] Besonders muß ich die Vicentiner loben, daß man bei ihnen die Vorrechte einer großen Stadt genießt. Sie sehen einen nicht an, man mag machen, was man will; wendet man sich jedoch an sie, dann sind sie gesprächig und anmutig, besonders wollen mir die Frauen sehr gefallen. [...] [In Vicenza] finde ich gar hübsche Wesen, besonders eine schwarzlockige Sorte, die mir ein eigenes Interesse einflößt. Es gibt auch noch eine blonde, die mir aber nicht so behagen will. Sprach's und ward die folgenden Tage nicht mehr gesehen.

Heute liegt nichts weiter an, also spazieren wir ein wenig durch die Straßen und schauen uns um. Das Volk rührt sich hier sehr lebhaft durcheinander, besonders in einigen Straßen, wo Kaufläden und Handwerkerbuden aneinanderstoßen, sieht es recht lustig aus. Da ist nicht etwa eine Tür vor dem Laden oder Arbeitszimmer, nein, die ganze Breite des Hauses ist offen, man sieht bis in die Tiefe und alles, was darin vorgeht. Die Schneider nähen, die Schuster ziehen und pochen, alle halb auf der Gasse, ja, die Werkstätten machen einen Teil der Straße.

Auf den Plätzen ist es an Markttagen sehr voll, Gemüse und Früchte unübersehlich, Knoblauch und Zwiebeln nach Herzenslust. Übrigens schreien, schäkern und singen sie den ganzen Tag, werfen und balgen sich, jauchzen und lachen unaufhörlich. Die milde Luft, die wohlfeile Nahrung läßt sie leicht leben. [...] Ein solches Übergefühl des Daseins verleiht ein mildes Klima auch der Armut, und der Schatten des Volkes scheint selbst noch ehrwürdig. Der Ursprung von Multikulti, fällt mir dabei ein, war wohl der Wunsch Alternativer, auch in ihrem heimischen Kaff diese bunte Urlaubsatmosphäre zu haben. Na, sie hätten's doch nur selber leben müssen, diese Trantüten. - Ist doch wahr.

Die uns so auffallende Unreinlichkeit und wenige Bequemlichkeit der Häuser entspringt auch daher: sie sind immer draußen, und in ihrer Sorglosigkeit denken sie an nichts. [...] Der Reiche kann reich sein, Paläste bauen, der Nobile darf regieren, aber wenn er einen Säulengang, einen Vorhof anlegt, so bedient sich das Volk dessen zu seinem Bedürfnis,und es hat kein dringenderes, als das so schnell wie möglich loszuwerden, was es so häufig als möglich zu sich genommen hat. Also beste Volksfeststimmung, die die Nordeuropäer natürlich gern übernommen haben. Ein gewisses Aroma im Hauseingang heute morgen kündete mir von der begeisterten Pflege dieses alten Brauchtums. - Nun geht es weiter nach Vicenza, wo Herr Goethe wieder ein umfangreiches Kulturprogramm vorhat. Aber es soll auch ein paar Tage ruhigen Aufenthalts geben. Das wäre mir allerdings lieb. Man muß doch diesen Kulturschock erst einmal verdauen, wenn man von jenseits des Limes angereist kommt.

 

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