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Dickis Reisen

Von der dreitägigen Fahrt nach Neapel nur ein kurzer Ausschnitt. Gleich am ersten Abend, in Velletri, hat Goethe das Kabinett eines Cavaliere Borgia besucht und sich an den ausgestellten Kunstschätzen erfreut. Als wir nach der Herberge gingen, riefen uns einige vor ihren Haustüren sitzende Weiber an, ob wir nicht auch Altertümer zu kaufen Lust hätten, und als wir uns darnach sehr begierig erwiesen, holten sie alte Kessel, Feuerzangen nebst anderem schlechten Hausgeräte und wollten sich zu Tode lachen, uns angeführt zu haben. Als wir uns deshalb entrüsteten, brachte unser Führer die Sache wieder ins gleiche; denn er versicherte, daß dieser Spaß hergebracht sei und daß alle Fremden denselben Tribut entrichten müßten.

Und nun, ungekürzt und O-Ton Goethe, die Ankunft in Neapel:
     Nachmittag tat sich ein schönes, flaches Feld vor uns auf. Die Chaussee geht breit zwischen grünen Weizenfeldern durch, der Weizen ist wie ein Teppich und wohl spannenhoch. So geht es bis Neapel hinein. Ein klarer, herrlich lockerer Boden und gut bearbeitet. Die Weinstöcke von ungewöhnlicher Stärke und Höhe, die Ranken wie Netzte von Pappel zu Pappel schwebend.
     Der Vesuv blieb uns immer zur linken Seite, gewaltsam dampfend, und ich war still für mich erfreut, daß ich diesen merkwürdigen Gegenstand endlich auch mit Augen sah. Der Himmel ward immer klärer, und zuletzt schien die Sonne recht heiß in unsere enge rollende Wohnung. Bei ganz rein heller Atmosphäre kamen wir Neapel näher; und nun fanden wir uns wirklich in einem andern Lande. Die Gebäude mit flachen Dächern deuten auf eine andere Himmelsgegend, inwendig mögen sie nicht sehr freundlich sein. Alles ist auf der Straße, sitzt in der Sonne, so lange sie scheinen will. Der Neapolitaner glaubt, im Besitz des Paradieses zu sein, und hat von den nördlichen Ländern einen sehr traurigen Begriff: "Sempre neve, case di legno, gran ignoranza, ma danari assai." Solch ein Bild machen sie sich von unserm Zustande. Zur Erbauung sämtlicher deutscher Völkerschaften heißt diese Charakteristik übersetzt: "Immer Schnee, hölzerne Häuser, große Unwissenheit; aber Geld genug."
     Neapel selbst kündigt sich froh, frei und lebhaft an, unzählige Menschen rennen durcheinander, der König ist auf der Jagd, die Königin guter Hoffnung, und so kann's nicht besser gehen.


Nein, ich glaube nicht, daß der König Jagd auf seine Untertanen macht. - Mit der Unwissenheit mögen sie recht haben, die Neapolitaner. Wenn ich an Luciano De Crescenzo und seine etwas eigenwillige Philosophia Napolitana denke ("Also sprach Bellavista") ... Für den Neapolitaner, das muß man allerdings bedenken, beginnen die nördlichen Länder ungefähr auf der Höhe Roms.

Hier war Karneval und ich habe fast nichts davon mitbekommen. Goethe auch nicht? Nun ist der Narrheit ein Ende. Die unzähligen Lichter gestern abend waren noch ein toller Spektakel. Das Karneval in Rom muß man gesehen haben, um den Wunsch völlig loszuwerden, es je wieder zu sehen. [...] Was man dabei unangenehm empfindet, daß die innere Fröhlichkeit den Menschen fehlt und es ihnen an Gelde mangelt, das bißchen Lust, was sie noch haben mögen, auszulassen. Das kommt mir aber sehr bekannt vor. - Doch im Jahr darauf - ich hab ein wenig in die Zukunft gesehen - sagt er: [...] Noch bedenklicher wird diese Einwendung [i.e. es lasse sich nicht beschreiben], wenn wir selbst gestehen müssen, daß das Römische Karneval einem fremden Zuschauer, der es zum erstenmal sieht und nur sehen will und kann, weder einen ganzen noch einen erfreulichen Eindruck gebe, weder das Auge sonderlich ergötze, noch das Gemüt befriedige. Sodann schildert er die tollen Tage in Rom auf dreißig Druckseiten. Aber hallo!

Doch zurück in die Gegenwart. Letzte Reisevorbereitungen, Vorfreuden, Besorgnisse. Mit Tischbein, der so einen herrlichen Blick in Natur als Kunst hat, diese Reise zu machen, ist für mich von der größten Wichtigkeit; doch können wir als echte Deutsche uns doch nicht losmachen von Vorsätzen und Aussichten auf Arbeit. Das schönste Papier ist gekauft, und wir nehmen uns vor, darauf zu zeichnen, obgleich die Menge, die Schönheit und der Glanz der Gegenstände höchst wahrscheinlich unserm guten Willen Grenzen setzt.

Andere Länder, andere Sprachen. Dann [...] traten bei dreißig Seminaristen nach und nach auf und lasen kleine Gedichte, jeder in seiner Landessprache: Malabarisch, Epirotisch, Türkisch, Moldauisch, Elenisch, Persisch, Kolchisch, Henräisch, Arabisch, Syrisch, Koptisch, Sarazenisch, Armenisch, Hibernisch, Madagaskarisch, Isländisch, Boisch, Ägyptisch, Griechisch, Isaurisch, Äthiopisch etc. und mehrere, die ich nicht verstehen konnte. Die Gedichtchen schienen, meist im Nationalsilbenmaße verfaßt, mit der Nationaldeklamation vorgetragen zu werden; denn es kamen barbarische Rhythmen und Töne hervor. das Griechische klang, wie ein Stern in der Nacht erscheint.

Goethe ist selbst bei Nacht noch unterwegs und schwärmt von Rom im Mondlicht. Aber man beansprucht ihn auch immer wieder, und irgendwann muß er ja seine Studien, derentwegen er hier ist, betreiben. Neulich wieder eine Vorlesung. Vor meiner Abreise nach Neapel konnte ich einer nochmaligen Vorlesung meiner "Iphigenia" nicht entgehen. Madam Angelika und Hofrat Reiffenstein waren die Zuhörer, und selbst Herr Zucchi hatte darauf gedrungen, weil es der Wunsch seiner Gattin war [...] Die zarte Seele Angelika nahm das Stück mit unglaublicher Innigkeit auf; sie versprach mir, eine Zeichnung darauf auszustellen, die ich zum Andenken besitzen sollte. Und nun gerade, als ich mich von Rom zu scheiden bereite, werde ich auf eine zarte Weise mit diesen wohlwollenden Personen verbunden. Es ist mir zugleich ein angenehmes und schmerzliches Gefühl, wenn ich mich überzeuge, daß man mich ungern wegläßt. Unglaubliche Innigkeit, hm? Lieber Herr Goethe, lassen Sie sich von dem wahren Dicki mal - ach, der hört mir ja doch nicht zu.

Ist jetzt auch egal, der Kurs ist abgesteckt, ein natürlicher Leuchtturm weist den Weg. Der Vesuv wirft Steine und Aschen aus, und bei Nacht sieht man den Gipfel glühen. Gebe uns die wirkende Natur einen Lavafluß! Nun kann ich kaum erwarten, bis auch diese großen Gegenstände mir eigen werden. Und ich kann es auch kaum erwarten, einem Vulkanausbruch beizuwohnen, der noch in über 150 Kilometer Entfernung sichtbar ist. Ich meine, selbst wenn der Goethe ein Fernglas benutzt - da ist ordentlich was am Kochen.

Rom, Januar 1787. Goethe verbringt viel Zeit bei dem verletzten Moritz oder er bearbeitet seine Iphigenie. Ich lese ein Buch nach dem anderen, und die Bücher katapultieren mich heraus aus dem beschaulichen Italien.

Zuerst "Bauern, Bonzen und Bomben" von Hans Fallada. Pommern 1930, ein kleines Industrienest irgendwo bei Stettin. Die Bauern beginnen, sich gegen Pfändungen ihres Viehs zu wehren und demonstrieren in der Stadt, wo ihr verhafteter Anführer einsitzt. Durch eine Intrige verursacht der Geheimbeauftragte der Kreisregierung einen blutigen Polizeieinsatz gegen die Bauern. Diese organisieren einen Boykott gegen die Stadt, die Städter organisieren untereinander Intrigen, der Prozess wegen des Aufruhrs enthüllt einiges, doch die angeklagten Bauern werden trotzdem verurteilt.

Es ist eine Komödie mit trefflichen Menschenschilderungen und vielen komischen Dialogen, doch eine bittere. Alle Organisationen, Institutionen und Zeitungen verfolgen nur ein Ziel: die Mehrung ihrer Macht und Verkündung ihres Weltbildes als des einzig Wahrhaftigen; ob Richtiges gesagt und getan wird, ist ohne Belang, erst recht, wenn es vom "Feind" kommt. Der Bürgermeister der Kleinstadt, ein SPD-Bonze, der für alle Menschen in Stadt und Land organisiert, entwickelt, Gelder auftreibt und der manches erreicht hat, wird von den eigenen Genossen abgesägt - er täte nicht genug für die Partei.

Dann "Der Baader-Meinhof-Komplex" von Stefan Aust. Eine kleine Parallele zu "Bauern, Bonzen und Bomben": es war der Verfassungsschutz, der den radikalsten Studenten die ersten Molotow-Cocktails und Bomben besorgte. Die Leute von der späteren RAF ebenso wie die von der späteren "Bewegung 2. Juni" gingen in die Falle der erwünschten Eskalation, weil sie glaubten, wenn alle über die Revolution diskutieren, dann steht sie vor der Tür und man muß nur den Anfang machen. Der Weg der RAF führte in den Knast, und erst als Inhaftierte unter äußerst scharfen Haftbedingungen wurden sie als Opfer attraktiv und es entstand eine Sympathisantenszene. Es ist immer wieder interessant nachzulesen, wie unter dem Etikett Terrorismusbekämpfung Gesetze verschäft, Sondergesetze erlassen, Verteidigerrechte ausgesetzt und ein geradezu unrechtsstaatlicher Prozeß gegen die RAF-Mitglieder in Stammheim (und anderswo) durchgezogen wurde. Sie waren in die Gewaltfalle gegangen, nun wurde an ihnen stellvertretend für eine ganze Generation ein Exempel statuiert.

Und "Wie alles anfing" von Bommi Baumann. Seine Geschichte beginnt in den frühen 60ern und dem gemeinsamen Erleben aller jungen Leute: wie sie wegen ihrer Lebenslust und "ihrer" Musik - Beat und Rock'n'Roll - von vielen Älteren beschimpft, diffamiert und bedroht wurden. Als Linke hat man sich denn noch nicht gefühlt, aber alles was dagegen war, war gut, auch die NPD. Es gab jedoch keine Hakenkreuzromantik, das nicht, Hitler fand natürlich keiner gut, weil der auch gegen lange Haare war, das war ja genau der Typ. Faschismus als solcher wurde natürlich abgelehnt, aber die reine Opposition hast du dann schon besser gefunden als diese kleinbürgerliche Mittelmäßigkeit, dieses reine Nichts, das herrschte. Da hast du schon alles gut gefunden, was nicht damit einverstanden war, auf alle Fälle war es lustig.

Und allmählich beschäftigten sich immer mehr junge Menschen mit Politik und wurden auch aktiv, mit witzigen Aktionen ebenso wie mit Randale. Der Terrorismus begann, als nach langen Hetzkampagnen der Springerpresse ein Arbeitsloser Rudi Dutschke niederschoß, Ostern 1968. In vielen Städten gab es daraufhin Krawall, in Berlin flogen Steine gegen den Springer-Verlag - und vom Verfassungsschutz gelieferte Molotow-Cocktails.

Das alles geistert mir seit Tagen im Kopf herum und mußte aufgeschrieben werden. Jetzt habe ich hoffentlich den Kopf wieder frei für Goethe, Rom und die Italienische Reise.

Poa, jetzt kriegt der Goethe auch noch ein Denkmal spendiert, sozusagen: Ich bemerkte wohl, daß Tischbein mich öfters aufmerksam betrachtete, und nun zeigt sich's, daß er mein Porträt zu malen gedenkt. [...] Ich soll in Lebensgröße als Reisender, in einen weißen Mantel gehüllt, in freier Luft auf einem umgestürzten Obelisken sitzend, vorgestellt werden, die tief im Hintergrunde liegenden Ruinen der Campagna di Roma überschauend. Es gibt ein schönes Bild, nur zu groß für unsere nordischen Wohnungen. Ich werde wohl wieder dort unterkriechen, das Porträt aber wird keinen Platz finden.

Die Künstlerzirkel insgesamt können ihn mal im Arsche lecken, glaube ich. Ja, es ist hier wie allenthalben, und was mit mir und durch mich geschehen könnte, macht mir schon Langeweile ehe es geschieht. Man muß sich zu einer Partei schlagen, ihre Leidenschaften und Kabalen verfechten helfen, Künstler und Dilettanten loben, Mitwerber verkleinern, sich von Großen und Reichen alles gefallen lassen. Diese sämtliche Litanei, um derentwillen man aus der Welt laufen möchte, sollte ich hier mitbeten und ganz ohne Zweck?

Da gibt er sich lieber mit Individuen ab. Eben komme ich von Moritz, dessen geheilter Arm heute aufgebunden worden. Es steht und geht recht gut. Was ich diese vierzig Tage bei diesem Leidenden als Wärter, Beichtvater und Vertrauter, als Finanzminister und geheimer Sekretär erfahren und gelernt, mag uns in der Folge zugute kommen. Die fatalsten Leiden und die edelsten Genüsse gingen diese Zeit her immer einander zur Seite.

Der Moritz pflegt auch so ne Art Vers- oder Betonungstheorie, die Goethe inspiriert hat, seine Iphigenie in Jamben zu setzen. Und ich habe die Zeit genutzt, um wieder etwas aus meiner Reisebibliothek vorzunehmen. Doch davon ein andermal; der heutig Tag ist mir zu trüb für eine Komödie.

Freitag, der 13te, sage ich nur: der Vesuv ist ausgebrochen. Natürlich eilt alle Welt gen Neapel. Ich aber will ausharren in Hoffnung, daß der Berg noch etwas für mich aufheben wird. - In der Woche darauf unverhoffter Besuch: Moritz ist hier, der uns durch "Anton Reiser" und die "Wanderungen nach England" merkwürdig geworden. Es ist ein reiner, trefflicher Mann, an dem wir viel Freude haben. Der sich aber wenige Tage später den Arm bricht, indem sein Pferd auf dem glatten römischen Pflaster ausglitschte.

Genug der Katastrophen, auch Goethe hat Katzen-Content. In Anbetracht des Unglücksdatums dürfte es sich um eine schwarze Katze handeln. Auf einmal, sehr eilig und heftig gegen ihre Gewohnheit, öffnet [die Wirtin] die Türe und ruft mich, eilig zu kommen und ein Wunder zu sehen. Auf meine Frage, was es sei, erwiderte sie, die Katze bete Gott-Vater an. Sie habe diesem Tiere wohl längst angemerkt, daß es Verstand habe wie ein Christ, dieses aber sei doch ein großes Wunder. Ich eilte, mit eigenen Augen zu sehen, und es war wirklich wunderbar genug. Die Büste steht auf einem hohen Fuße, und der Körper ist weit unter der Brust abgeschnitten, so daß also der Kopf in die Höhe ragt. Nun war die Katze auf den Tisch gesprungen, hatte ihre Pfoten dem Gott auf die Brust gelegt, und reichte mit ihrer Schnauze, indem sie die Glieder möglichst ausdehnte, gerade bis an den heiligen Bart, den sie mit der größten Zierlichkeit beleckte und sich weder durch die Interjektion der Wirtin noch durch meine Dazwischenkunft im mindesten stören ließ. Der guten Frau ließ ich ihre Verwunderung, erklärte mir aber diese seltsam Katzenandacht dadurch, daß dieses scharf riechende Tier wohl das Fett möchte gespürt haben, das sich aus der Form in die Vertiefungen des Bartes gesenkt und dort verhalten hatte. Stellt sich die Frage, ob man damals seine Andacht allgemein durch Bartlecken verrichtet hat.

Wie es Goethe hier in Rom ergeht, soll er mal selber sagen:

Nun bin ich sieben Tage hier, und nach und nach tritt in meiner Seele der allgemeine Begriff dieser Stadt hervor. Wir gehn fleißig hin und wider, ich mache mir die Plane des alten und neuen Roms bekannt, betrachte die Ruinen, die Gebäude, besuche ein und die andere Villa, die größten Merkwürdigkeiten werden ganz langsam behandelt, ich tue nur die Augen auf und seh' und geh' und komme wieder, denn man kann sich nur in Rom auf Rom vorbereiten.

Gestehen wir jedoch, es ist ein saures und trauriges Geschäft, das alte Rom aus dem neuen herauszuklauben, aber man muß es denn doch tun und zuletzt eine unschätzbare Befriedigung hoffen. Man trifft Spuren einer Herrlichkeit und einer Zerstörung, die beide über unsere Begriffe gehen. Was die Barbaren stehen ließen, haben die Baumeister des neuen Roms verwüstet.
Und das lange vor der Beton- und Asphalt-Orgiasterei! Oh, pardon, ich hatte unterbrochen.

Ich lebe nun hier mit einer Klarheit und Ruhe, von der ich lange kein Gefühl hatte. Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen und abzulesen, meine Treue, das Auge licht sein zu lassen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention kommen mir einmal wieder recht zustatten und machen mich im stillen höchst glücklich. Alle Tage ein neuer merkwürdiger Gegenstand, täglich frische, große, seltsame Bilder und ein Ganzes, das man sich lange denkt und träumt, nie mit der Einbildungskraft erreicht.

Manchmal läßt er sein Inkognito beiseite, und so brachte ihn der Fürst von Liechtenstein dazu, einem Dichter zuzuhören, der sein "Aristodem" betiteltes Werk vorlas. Das führte natürlich dazu, daß sie es von vorn bis hinten und von hinten bis vorn bekakeln mußten. So weit, so gut. Dagegen aber reichte mein guter Humor nicht hin, als die Tochter des Prätendenten das fremde Murmeltier gleichfalls zu sehen verlangte. Das habe ich abgelehnt und bin ganz entschieden wieder untergetaucht. Allerdings schlechten Gewissens: Und doch ist das auch nicht die ganz rechte Art, und ich fühle hier sehr lebhaft, was ich schon früher im Leben bemerken konnte, daß der Mensch, der das Gute will, sich ebenso tätig und rührig gegen andere verhalten müsse als der Eigennützige, der Kleine, der Böse. Einsehen läßt sich's gut; es ist aber schwer in diesem Sinne zu handeln.

Das Schlechte kommt von ganz allein zu jedem Menschen, aber zum Guten muß jeder sich selbst hinbewegen. Deshalb ist es soviel leichter, "gut" zu reden als "gut" zu handeln. Ist aber nix Neues, steht alles schon in der Bibel.

Nach dem Papst werden Bilder geguckt; Tizian, Guercin, Reni, Raffael und andere. Da laufen dann auch deutsche Künstler herum, und - sieh da! - nicht nur heute gibt es Leute, die behaupten, mit Goethe bekannt zu sein: Ich bemerkte wohl, daß mehrere deutsche Künstler, zu Tischbein als Bekannte tretend, mich beobachteten und sodann hin und wider gingen. Er, der mich einige Augenblicke verlassen hatte, trat wieder zu mir und sagte: "Da gibt's einen großen Spaß! Das Gerücht, Sie seien hier, hatte sich schon verbreitet, und die Künstler wurden auf den einzigen unbekannten Fremden aufmerksam. Nun ist einer unter uns, der schon längst behauptet, er sei mit Ihnen umgegangen, ja er wollte mit Ihnen in freundschaftlichem Verhältnis gelebt haben, woran wir nicht so recht glauben wollten. Dieser ward aufgefordert, Sie zu betrachten und den Zweifel zu lösen, er versicherte aber kurz und gut, Sie seien es nicht und an dem Fremden keine Spur Ihrer Gestalt und Aussehens. So ist doch wenigstens das Inkognito für den Moment gedeckt, und in der Folge gibt es etwas zu lachen."

Doch weshalb ein Inkognito? Weil er DER Goethe ist, Verfasser von "Die Leiden des jungen Werther", ein europäischer Megaseller, der binnen weniger Jahre in französischer, englischer, italienischer und russischer Übersetzung erschien, auf den sich liebesleidende Selbstmörder beriefen: Goethe Superstar! Er mußte keine Autogrammstunden in Kaufhäusern abhalten, aber jeder wollte seine Bekanntschaft machen, über den Werther diskutieren und eigene Werke begutachten lassen. Das hat Goethe ziemlich genervt, er wollte diesen Rummel nicht. Das Kunstwerk spricht durch sich selbst, nicht durch den Mund des Künstlers.

[Ganz recht, ich habe eine Nummer übersprungen. Der Goethe hätte das als Aberglaube abgetan, aber wir Heutigen sind denn doch ein wenig aufgeklärter und wissen, daß man die Mächte der Dunkelheit nicht geradzu auffordern darf, einzutreten, wenn man sich zu einem höheren Sein aufschwingen will. Deshalb muß auf zwölf vierzehn folgen. Wir leben schließlich in der Moderne.]

Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt! Wenn ich sie in guter Begleitung, angeführt von einem recht verstänigen Manne, vor fünfzehn Jahren gesehen hätte, wollte ich mich glücklich preisen. Sollte ich sie aber allein, mit eigenen Augen sehen und besuchen, so ist es gut, daß mir diese Freude so spät zuteil ward.

Jetzt ist mir klar, weshalb wir im Sauseschritt durch Po-Ebene und Appenin düsten: Einer der Hauptbeweggründe, die ich mir vorspiegelte, um nach Rom zu eilen, war das Fest Allerheiligen, der erste November; denn ich dachte, geschieht dem einzelnen Heiligen so viel Ehre, was wird es erst mit allen werden. Allein, wie sehr betrog ich mich! Kein auffallend allgemeines Fest hatte die römische Kirche beliebt, und jeder Orden mochte im besonderen das Andenken seines Patrons im stillen feiern; denn das Namensfest und der ihm zugeteilte Ehrentag ist's eigentlich, wo jeder in seiner Glorie erscheint.

Tja, Neese. Jedoch: Gestern aber, am Tage Allerseelen, gelang mir's besser. Das Andenken dieser feiert der Papst in seiner Hauskapelle auf dem Quirinal. Jedermann hat freien Zutritt. [...] Mich ergriff ein wunderbar Verlangen, das Oberhaupt der Kirche möge den goldenen Mund auftun und, von dem unaussprechlichen Heil der seligen Seelen mit Entzücken sprechend, uns in Entzücken versetzen. Da ich ihn aber vor dem Altare sich nur hin und her bewegen sah, bald nach dieser, bald nach jener Seite sich wendend, sich wie ein gemeiner Pfaffe gebärdend und murmelnd, da regte sich die protestantische Erbsünde, und mir wollte das bekannte und gewohnte Meßopfer hier keineswegs gefallen. Hat doch Christus schon als Knabe durch mündliche Auslegung der Schrift und in seinem Jünglingsleben gewiß nicht schweigend gelehrt und gewirkt; denn er sprach gern, geistreich und gut, wie wir aus den Evangelien wissen. Was würde der sagen, dacht' ich, wenn er hereinträte und sein Ebenbild auf Erden summend und hin und wider wankend anträfe?

Mich beschäftigt außerdem die Frage, zu welcher Lektüre ich denn als nächstes greifen soll. Der Goethe hat ja lange mit dem Maler Emil Tischbein korrespondiert (über dessen Kindheit Erich Kästner geschrieben hat) und will hier in Rom bei ihm in die Lehre gehen; da werde ich viel Zeit zum Lesen haben. Na, mal sehen.

Meine Reisegesellschaft, Männer und Frauen, ganz leidliche und natürliche Menschen, liegen noch alle schlafend in der Kajüte. Ich aber, in meinen Mantel gehüllt, blieb auf dem Verdeck die beiden Nächte. Nur gegen Morgen ward es kühl. Ich bin nun in den fünfundvierzigsten Grad wirklich eingetreten und wiederhole mein altes Lied: dem Landesbewohner wollt' ich alles lassen, wenn ich nur wie Dido so viel Klima mit Riemen umspannen könnte, um unsere Wohnungen damit einzufassen. Es ist denn doch ein ander Sein.

So sagte er auf den Wassern des Po, und erst war die Ebene erfreulich (er sagt immer Plaine, ich glaube, der Kerl ist ein bißchen frankophil), dann immergleich, und schließlich nahm sie schier kein Ende, so daß wir den Appenin herbeisehnten. Von Venedig ging es nach Ferrara und Bologna, dann über (oder sagt man: durch?) den Appenin und weiter: Florenz, Arezzo, Perugia und Terni. Die Gasthäuser waren von unterschiedlicher Güte.

Zwei Abende habe ich nicht geschrieben. Die Herbergen waren so schlecht, daß an kein Auslegen eines Blattes zu denken war. Auch fängt es mir an, ein bißchen verworren zu werden; denn seit der Abreise von Venedig spinnt sich der Reiserocken nicht so schön und glatt mehr ab. Und so gab es erfreuliche und enttäuschende Städte, fruchtbaren Boden hier, felsigen Untergrund dort, überall berühmte Maler und über allen Malern Raffael.

Das war's in Kürze. Nun heißt es erst einmal ankommen, in der erstaunlichsten Stadt des Universums, wie Goscinny sagt: Rom.

 

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