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Muddi

eine Geschichte von ihrer Muddi, als sie selbst noch ein Kind war. Von dem Haus, in dem die Familie damals wohnte, waren es ein paar Minuten zur Straßenbahnhaltestelle, vor deren Erreichen man durch eine Eisenbahnunterführung zu gehen hatte. Muddis Muddi hatte eine große Verwandtschaft und so war sie oft unterwegs, Geburtstag hier, Festtag dort, und man traf sich auch sonst nicht selten, und immer ging es unter der Eisenbahn durch, zumeist abends und natürlich auch bei Dunkelheit. Muddis Muddi hatte da keine Angst. Einmal aber hörte sie unter der Eisenbahn Schritte hinter sich. Vorsicht ist die Muddi der Porzellankiste, also drehte sie sich um, damit sie sehen konnte, wer da hinetr ihr ging. Und siehe, es war ein Mann, und er sprach: "Fürchte dich nicht, ich bin Jesus." Da fürchtete sie sich aber doch und eilte davon. - Dies war mein diesjährige Weihnachtsgeschichte, da in einem der Fenster gegenüber ein Lichterstern traulich funkelt, und der Menschheit ein Wohlgefallen etc. Dabei fällt mir ein, daß auch die Liebhaber elektrischen Weihnachtsschmucks bald auf Energiesparlampen umsteigen müssen. Als ob das Lichtergedöns nicht so schon schlimm genug wäre. (Angeblich sind Energiesparlampen aber doch cool)

Seit Anfang diesen Jahres gefällt es Muddi zu sagen: "Ich bin ja schon fast neunzig." Das ist zu einer stehenden Redewendung geworden. Anfangs protestierte ich zaghaft: "Erst wirst du mal 87", aber als sie es dann zum x-ten Mal behauptete, erwiderte ich: "Gib mal nicht so an." Sie nahm es mir nicht übel; lächelte so ein bißchen verschmitzt. Neulich war es wieder soweit. Sie schloß eine Erzählung mit den Worten: "Die ist aber noch um Einiges jünger als ich." Woraufhin ich sie ansah und den Arm zum Zeichen ihres Einsatzes hob. Und Muddi sagte: "Ich bin ja schon fast hundert."

eigentlich, Ajax Amsterdam zu Gast in Bremen. Überall Polizei, so beschäftigt, daß sie mich trotz meines ausen Lichts nicht behelligten. - Muddi hätte ein Junge werden sollen, und so schleppte Großvater sie manches Mal mit zu den "Ajaxiden" - und sie interessierte sich gar nicht für Fußball. Erst später, als Borussia Mönchengladbach seine große Zeit hatte. Muddi erinnert sich: "Das ging so Hopp - Hopp - Hopp - und dann war der Ball im Tor." Genau so war das, mit dem Heynckes, dem Jensen, dem Wimmer, dem Rupp und dem Netzer. Zu der Zeit sammelte Ajax internationale Titel wie Andere Unterhosen von Rockstars. - Oder das Länderspiel Niederlande - Deutschland irgendwo in den Siebzigern. Muddi: "Ich gewinn auf jeden Fall."

Und heute also Werder gegen Ajax. War verdächtig ruhig, die zweite Halbzeit. Ich hör das alles durchs Küchenfenster mit. Kein Getröte, kein Stöhnen, kein Jubeln. Hätte ich deshalb doch nicht gedacht, daß unsere Werderaner Ajax mit 3:0 abschießen. Sagte aber schon zu Schulzeiten Joachim M.: "Das Leben ist hart, aber ungerecht. " Und Hellmut H.: "Das Leben ist eins der schwersten." Und Manfred Schmidt(chen): "Das Leben ist eine gefährliche Sache; es ist noch niemand lebend herausgekommen." Und damit ist glaube ich wirklich alles gesagt. - Ach so, und Muddi hat gewonnen.

Muddis Ersparnisse neigen sich dem Ende zu. Müßte sie von ihrer Rente leben, blieben ihr nach Abzug aller Fixkosten 75 Euro im Monat. Also Antrag auf Grundsicherung gestellt. Grundsicherung, das klingt doch ganz gut, nicht? Da werden Miete und Heizung bis zu einer gewissen Quadratmeterzahl, Versícherungen und Behinderungen berücksichtigt. Wieviel denn zu erwarten sei, fragte ich die Sachbearbeiterin. Na, das ist ja einheitlich geregelt, Miete, Heizung und 345 Euro zum Leben. Schlimm genug, daß die Alten nun auch auf das Niveau von HartzIV (oder sagt man jetzt Hartz-Bewährung?) gedrückt werden, aber als der Bescheid kam, war ich erstmal sprachlos: 85 Euro werden bewilligt, das heißt, mit den eigenen 75 kommt Muddi auf 160 Euro monatlich. Ja sicher, Rundfunkgebührenbefreiung und dieses und jenes, aber in Summe übersteigt das 200 Euro nicht.

"Sehen Sie", sagt der erste Experte triumphierend, "wenn Ihre Mutter Vorsorge getroffen hätte!" - Hat sie doch. Nur reicht das Geld nicht ewig, wenn man älter und älter wird und zudem wohl auch den Überblick verliert.
"Mit Einsparungen", sagt der zweite Experte überlegen, "ist da doch sicher etwas zu machen. Wieviel Miete bezahlt Ihre Mutter denn? Ach, so viel? Dann suchen Sie mal schleunigst eine angemessene Wohnung!" - Bedaure, für alte Menschen - Ausnahmen bestätigen die Regel - bedeutet Umzug den Tod, weil sie sich in einer neuen, fremden Umgebung nicht mehr zurechtfinden können.Und viel billiger als jetzt könnte sie bei den heutigen Mieten doch kaum wohnen, es sei denn in einem Kellerloch.
"Und wie hatte Ihre Mutter denn", fragt der dritte Experte vorwurfsvoll, "das Geld angelegt und weshalb ist es aufgebraucht? - Aha, ach so, ich verstehe, hm hm, dann ist Ihre Mutter aber auch selbst schuld." - Und wenn sie tausendmal selbst schuld wäre, sie ist ein bedürftiger Mensch und braucht Hilfe.

Die Experten zucken die Achseln. Da kann man nichts machen. Wer keine Beziehungen hat, muß sehen wo er bleibt. Wer keine Beziehungen und kein Geld hat, ist nichts wert. - Eine Reform des unseligen Begriffes 'unwertes Leben'.

Zu den Errungenschaften der Menschheit zählen eindeutig auch Versprecher; sie gehören zu den kleinen Dingen, die das Leben angenehm machen können. Wie ein Sonnenstrahl blitzt solch ein Lapsus in einen grauen Tag und verbreitet stille Freude. Muddi: "Dies Jahr wohne ich hier schon fünfzig Jahre." - "Hast du Heiner [Sohn der früheren Hausbesitzer und jetziger Vermieter] schon Bescheid gesagt, daß er ein großes Fest für dich veranstaltet?" - "Och, den kriegt man ja gar nicht mehr zu sehen, und wenn, dann isses seine Frau."

- meine Amsterdamer Großmutter - war ein heiterer Mensch, was vielleicht mit ihrer Liebe zur Musik zusammenhing. Ein knappes Jahr Klavierunterricht schuf die Grundlage, auf der sie dann selbständig voranschritt. Sie lernte schnell (nicht nur Klavier) und arbeitete bei einem Klavierhändler als Verkäuferin, bevor sie ihren Mann heiratete und in seinem neugegründeten Geschäft ("Electriciteitsbureau") mithalf. Den Kunden wurden elektrische Installationen und Geräte gezeigt, und bei einer dieser Gelegenheiten verkaufte sie die Deckenlampe des Wohnzimmers. Die hatte dem Kunden gefallen

Großmutter war eines von 12 Kindern (das erste Mädchen nach fünf Jungen) und wurde von den älteren Brüdern gerne mitgenommen, denn sie hat niemanden und nichts verraten. Der Vater hatte eine Schmiede, er und seine Frau standen politisch den Kommunisten nahe und Großmutters Muddi - inzwischen verwitwet - half politischen Flüchtlingen aus Deutschland nach der Machtübernahme der Nazis. Großmutters Schwester Mien, die in der Heilsarmee tätig war, erlebte die Bombardierung von Rotterdam mit, verließ die Heilsarmee und wurde Kommunistin. Soviel ich weiß, blieb sie dabei und glaubte (unterstelle ich) mit religiösem Eifer, daß in der UdSSR alles besser sei. Großmutter war politisches Engagement suspekt, sie hatte andere Interessen. Muddi erzählt: "Meine Eltern saßen abends im Wohnzimmer, er mit Geschäftspapieren, sie mit einem Buch. Immer hat sie gelesen."

Großmutters Töchter heirateten in den 40er Jahren; die ältere während des Krieges, Muddi 1946. Anfang der 50er kamen die Großeltern zum ersten Mal zu Besuch nach Bremen. Muddi: "Die beiden Männer haben eine Runde durch die Stadt gemacht und Mutter ist spazierengegangen. Nachher sagte sie, daß sie sich auf einer Parkbank wunderbar mit einem völlig fremden Menschen unterhalten habe. Wie sie das gemacht hat, ist mir ein Rätsel: die konnte doch kaum deutsch!"

Großmutter war durchaus auch streng. Ewig lockte mich die Obstschale auf dem Buffet, aber - "dat mag niet!" - erst fragen, und dann auch nur einmal am Tag einen Apfel, eine Orange, einen Pfirsich oder Weintrauben, je nach Jahreszeit. (War ich ausnahmsweise allein in der großelterlichen Wohnung, setzte ich mich ans Klavier und probierte ein paar Tasten aus. Ansonsten blieb das Klavier - "dat mag niet!" - tabu.) Zu den Mahlzeiten gabs dann Leckereien vom "Olieboer", Schokoladen- oder Vanillepudding aus der Flasche, zum Kaffee (Milch für mich) diese wahnhaft süßen Löffelbiskuits, aber immer nur zwei. Launen mochte sie nicht: Kinder hatten sich zu betragen, punktum. Dann holte sie auch mal ein altes Würfelspiel hervor und spielte geduldig mit.

Großmutter war schon über 80, ein bißchen klapprig und wackelte häufig mit dem Kopf, als wir sie zum letzten Mal besuchten, 1971 oder '72. Sie bestand darauf, für uns alle zu kochen. Muddi half ein bißchen mit und kam dann ins Wohnzimmer: "Mutter ist so niedlich. Sie steht da am Herd und sagt Gedichte aus ihrer Schulzeit auf." Ihr Gedächtnis ließ nach, wie oft bei alten Menschen, aber die alten Gedichte hatte sie vollständig parat. - Großmutter war ein heiterer Mensch. Muddi: "Sie hat mal gesagt, es mache ihr nichts aus alt zu werden, aber daß sie nicht mehr Schlittschuhlaufen könne, das finde sie schlimm."

Nach dem Kaffee sagte Muddi: "Ich will mal eben hören, wie die spielen". Gemeint war die Fußballbundesliga unter besonderer Berücksichtigung 'unseres' Vereins. Ihr tragbares Radio stand eingeklemmt zwischen Sessel und Telefontisch, und um den Stecker in die Steckdose zu stecken, mußte sie sich seitlich nach hinten über die Lehne strecken, wobei sie ächzte und "Au!" rief; "mein Arm", setzte sie stöhnend hinzu.

"Sag doch was, Muddi, das kann ich doch auch machen." - "Irgendwas muß ich auch selbst tun. Wenn ich den falschen Sender habe, dann kannst du mal kucken." - "Ist gut, Muddi." - "Ach, der Stecker war schon drin." Sie beugte sich zum Radio hinunter, an dem sie wegen seiner eingeengten Position hilflos herumhantierte. "Stell dir das doch auf das Tischchen, dann hast du es leichter." - "Da hast du recht. - Ich hör nichts, ob es das Ding nicht tut? Ist das nun an oder nicht?!" - "Seltsam, ich hör auch nichts. Soll ich mal probieren?"

Der Schalter stand auf "On", der Stecker war in der Steckerleiste, aber das Gerät tat keinen Muckser. "Ich kann auch kaum was sehen", sagte ich, "ich mach mal eben die Stehlampe an." Knips - kein Licht. "Nanu, ist da kein Strom?" Ahnungsvoll folgte ich dem Stromkabel der Steckerleiste zur Buchse, und tatsächlich, die Leiste war nicht angeschlossen. Belustigt hielt ich Muddi Stecker und Kabel entgegen: "Hast du neulich Staub gesaugt?" - "Ach ja!"

Dann mussten wir beide lachen und ich erzählte ihr noch die Geschichte von der tollen Firma mit dem Server, der in einem stinknormalen Büro stand, in das die Putzfrau am Freitagabend kam und eine Steckdose für ihren Staubsauger suchte. Weil keine frei war, zog sie einen der Stecker, saugte den Teppich, packte ihr Gerät und ließ den Server ohne Stromversorgung zurück (als Übergangslösung wurden dann an wichtigen Steckern Zettel befestigt mit der Aufforderung, diesen auf gar keinen Fall zu ziehen).

Wir hatten dann unseren Fußballnachmittag, der ganz erfreulich verlief. 'Meisterlich', 'im Stile einer Spitzenmannschaft', 'eines Tabellenführers würdig' - das hört man gern. Otto der Erste - so wurde er hier genannt, ist ihm zu Kopf gestiegen, aber seine Fähigkeiten sind über jeden Zweifel erhaben - würde gesagt haben: "noch sieben Punkte und wir müssen nicht mehr gegen den Abstieg spielen", und natürlich hätte die Journaille wieder einmal nicht verstanden, was er ihr damit zu sagen versuchte

 

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