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Beobachtungen in der Natur

Vorhin im Supermarkt, dem mit den engen Gängen, will ich mich seitlich an der Frau vor mir vorbeimogeln, in die Abzweigung in Richtung Kasse. Ich höre noch eine Mutter gelassen sagen: "Bleib hier", dann schiebt die erstgenannte Frau ihren Einkaufswagen vor den meinen, weil ein Kind von 5 oder 6 Jahren sich ungestüm durchdrängelt und in die Abzweigung stellt. Kaum habe ich freie Bahn, biege ich ab, und da steht das Kind, mitten im Gang, mit dem Rücken zu mir.

"Läßt du mich bitte vorbei?" frage ich freundlich. Das Kind antwortet nicht, dreht sich nicht um oder geht beiseite, sondern breitet die Arme aus. "Du mußt schon Platz machen", sage ich, nur noch äußerlich geduldig. Die Hände greifen nach den Regalstreben. Mit dem Vorderteil des Wagens drücke ich das Kind aus der Gangmitte, und es drückt zurück. Während ich - nun auch äußerlich ungeduldig - sage: "Was soll denn das!? Das gibt's ja wohl nicht", packe ich das Blag bei der Anorakkapuze, ziehe es ein wenig nach oben und hebe es an die Seite. Und während ich an ihm vorübergehe, dreht es sich halb zu mir um, mit durchaus zufriedenem Lächeln, als wollte es sagen: "Das hat prima geklappt."

Bevor ich noch um die nächste Ecke gebogen bin, redet die Mutter hinter mir her: "Was ist denn los?! Sie können doch nicht einfach das Kind packen." - "Ich habe es freundlich gebeten, Platz zu machen, daraufhin hat es sich richtig breit gemacht." Ich unterstreiche das gestisch. - "Das ist aber immer noch ein Kind." - "Dann passen Sie bitte auf das Kind auf. So geht es doch wohl nicht." Im Weitergehen höre ich erst die Mutter etwas zu dem Kind sagen, dann das Teil kurz jaulen. Ach ja, die "der böse Onkel"-Nummer.

Wenig später, mein Einkauf bewegt sich auf dem Rollband bereits der Kasse entgegen, ertönt von hinten wieder die Stimme der Mutter: "Sie da vorne mit dem rot-weißen Hemd, das geht aber nicht, daß sie das Kind einfach an der Kapuze ziehen, das hat ihm nämlich wehgetan." - Sie zwischen mehreren Kunden hindurch ansehend, statt einer Erklärung: "Das sollte es auch." Sie setzt wieder an, ich komme ihr zuvor: "Wenn Sie Ihrem Kind keine Manieren beibringen, dann müssen es eben Andere tun." Mehrzahl, danke Unterbewußtsein, auf dich ist Verlaß. - "Es wollte bloß ein bißchen spielen." - "Jaja, es will nur spielen." - "Seien Sie froh, daß ich nicht die Polizei rufe, da könnten Sie was erleben." - "Tun Sie's ruhig, die lachen Sie doch aus." - "Da wäre ich mir aber nicht so sicher..."

Nebenbei registriere ich, daß die junge Frau hinter mir mit gerötetem Gesicht Ihre Waren auf das Rollband drückt, ja, nun ist es heraus, der wahre Dicki ist ein wahrer Kinderschreck, jetzt werden sie sich gegen mich solidarisieren, die Geknechteten und Unterdrückten - die Kassiererin ist freundlich wie immer. Weshalb auch nicht; dies ist bestimmt nicht die erste Szene um das Kind, die sie miterlebt, und vielleicht ist ihr sogar klar, daß das Balg seine Mutter in Auseinandersetzungen hineinmanipuliert.

Später wundere ich mich, daß die Mutter sich keine Sekunde aufgeregt hat; weder über mich noch über dieses Kind. Vielleicht greift man dann als Kind zu drastischen Mitteln, um irgendeine Gefühlsregung aus den Menschen herauszukitzeln.

Statt mich am Bürgerpark entlang wachzuradeln im überfüllten Zug nach Hannover wachstehend; aus Dusseligkeit nicht rechtzeitig gefragt habend umständliche Verbindungen nehmend auf Hin- und Rückfahrt spät eintreffend; auf der Rolltreppe zum Skywalk in eine Röhre aus Glas und Stahl gleitend von einem Gefühl der Unwirklichkeit überrascht werdend - trotz oder gerade wegen der vielen Menschen, die denselben Weg nehmen; in dieser Menge zumeist Schwarzbemantelter in dunklen Anzügen mit bunter Krawatte eine kollektive Wichtigkeit fühlend, eine Art rückkoppelnde Selbstbestätigung in der Nichtigkeit - so erlebte ich die erste Anreise zur CeBIT.

Vor den Eingängen ein breites Angebot an Flyern, Gratisausgaben von Zeitungen und Zeitschriften, mit Werbeaufdrucken versehenen Tragetaschen; über die Rollbänder des Skywalk durch den Schlund bis vor die Sperren getragen, wo hilfsbereite Hostessen im Zweifelsfall zupacken, um das Ticket in den Schlitz einzuführen; quer über das Gelände, von vollbesetzten Shuttles mehrfach überholt, zur Halle, an den Stand, angekommen, Begrüßung.

Zwei Hostessen waren engagiert worden und gingen engagiert ans Werk, durchaus keine Tussies, wie sich aus Gesprächen ergab, aber mit dem ewig diensteifrigen Lächeln, welches sie für die Aufgabe des Einladens und Anlockens prädestiniert; sehr professionell und deshalb viel besser vorbereitet als ich an meinem ersten Tag.

Überall diese diensteifrigen Hostessen ("Auf anderen Messen geht es viel sexistischer zu als auf der CeBIT, viel mehr Anmache") und Huren wir alle, teils blindlings, teils mit Understatement; ich selbst mit Freude an stante pede entwickelten Vergleichen und den mir eigenen seltsamen Formulierungen, und, schlimmer (oder auch nicht), einen bestimmten Typus zu überlangen Gesprächen animierend, indem ich Anerkennung zolle (vielleicht nicht immer zurecht, aber immer aus meinem Selbstverständnis heraus), die Mühselige und Geplagte zum Verweilen einlädt; also eher eine soziale Dienstleistung, die weniger der Firma als dem Gesprächspartner Gewinn bringt, weshalb ich dazu tendiere, mich als unprofessionelle Hure einzustufen.

Mittags schon brennen die Fußsohlen trotz bequemer Schuhe, im Laufe des Nachmittags versteift sich das Gesicht und wird zur Maske, weil es immer schwerer fällt, in der dauerbereiten Aufmerksamkeit gegen die vorbeiflutenden Gesichter und Figuren ein echtes Interesse zu bewahren. Ab 16 Uhr werden die Minuten, ab 17 Uhr die Sekunden gezählt, der Besucherstrom verebbt allmählich, der Messetag verklingt.

Auf überstrapazierten Füßen geht es zurück, durch die Röhre des Skywalk zu den Zügen, mangels rechtzeitigen Fragens mit umständlichen Verbindungen in die Heimat, todmüde in einen Sitzplatz sinkend, aber überdreht und deshalb daheim trinkend in die zu kurze Nacht.

Der zweite Tag ist Routine unter Anwendung des am ersten Tag Gelernten, mit viel weniger Unsicherheit und viel mehr Müdigkeit. Nur gut, daß ich nicht die ganze CeBIT mitmachen muß. Beim Anschied wünsche ich dem Chef ("Hast du wieder zehn Stunden geschlafen? - Ja.") und den Hostessen Kraft für den letzten Tag. Hurensolidarität.

M., der Künstlerinnenexgatte, bekennt, daß er "so eine Art Assi" sei; er habe Bilder gerahmt und mitaufgehängt und "ach du Jeh". Gerade will ich ihm erzählen, wie ein Streitsüchtiger uns auf dem Weg zur Ausstellung hat anpöbeln wollen, da bin ich an der Reihe, von der Künstlerin umarmt zu werden; sie habe in letzter Zeit soviel zu tun gehabt, aber wir hätten uns ja unterwegs gesehen - genau, da habe ich ihr zurufen müssen, weil sie irgendwie immer schon hundert Meter voraus sei, Tunnelblick oder so - oh, das sei ihr mehrfach passiert, immer in Gedanken versunken (immerzu die schweren Gedanken).

Zuerst spricht die Kulturverantwortliche des Cafes, in dem die Exponate aufgehängt sind, zu den geladenen Gästen. Sie dankt der Künstlerin, aber auch der nun eine Laudatio halten wollenden Künstlerkollegin. Diese dankt der Kulturverantwortlichen, dem Cafe und der Künstlerin, sagt Verschiedenerlei über die Exponate und dankt noch einmal der Künstlerin, die sich ihrerseits bei der Künstlerkollegin bedankt sowie bei allen, die zu der Ausstellung beigetragen haben sowie bei allen geladenen Gästen, die so zahlreich erschienen sind sowie bei dem nachfolgenden Redner von einer städtischen Institution, der sich - man ist gut erzogen - bei allen Vorrednerinnen bedankt, und dem die geladenen Gäste dankbar wären, wenn er nicht nur frei, sondern auch fließend reden wollte.

Nun können die Exponate besichtigt werden; vier im Foyer, drei im Wintergarten, sechs im Flur des Kellergeschosses und fünf im Cafe selbst. Das Neunzehnte, eine getrimmte Biographie, hängt neben der Treppe die hinunterführt, was man nicht überinterpretieren sollte. Die geladenen Gäste gehen die Fotostrecke ab, wie man heute sagt. Im Cafe sitzen Leute und wundern sich über uns Bildbetrachter, die wir ein wenig distanzlos nahe an die Tische herantreten, woran sie sitzen. Zwei Frauen schauen auf und sagen entschieden undankbar, daß sie schon überlegt hätten, die Bilder abzuhängen. Vielleicht ist es auch nicht so angenehm, im Gespräch von Gaffern unterbrochen zu werden, die beinahe mit der Gürtelschnalle gegen die Kaffeetassen stoßen, doch kann mich Kunstbeflissenen die Unbotmäßigkeit der Situation nur amüsieren.

Dankbar oder nicht, ein Teil der geladenen Gäste verlässt den Event, die Künstlerin gibt sich in einem eher familiären Kreis der Kunstbegeisterung hin und Frau P. und ich erzählen uns was von unseren Muddis. Frau P. hat der ihren kein solches Grabmal gesetzt, wie es auf den Exponaten zu besichtigen ist, aber sie hat ihre Muddi gewissermaßen in Fleisch und Blut verinnerlicht, und was ist dagegen eine in Stein gehauene Skulptur? Die Rose von einst, sie ist nicht mehr, geblieben ist nur die Erinnerung - und möge diese lebendig sein.

Vielleicht hätte Frau P. die Laudatio halten sollen. Sie würde daran erinnert haben können, daß, bevor die Ästhetik dieser abfotografierten Kunstwerke sein konnte, Schmerz und Leid erlebt werden mussten, und dafür wäre manch geladener Gast dankbarer gewesen als für das gedankenlose Gedanke.

Mittags bei meiner Mutter zum Essen eingeladen. Später trinken wir Kaffee auf ihrem Balkon, bereden Ernstes, scherzen zwischendurch miteinander. Daß das möglich ist, hatte ich vor 10 Jahren auch noch nicht gedacht (Du sollst deine Eltern nicht unterschätzen). Schräg gegenüber breitet sich eine türkische Familie zum Klang der Nationalhymnen Schwedens und Deutschlands auf der Dachterrasse aus. Vaddi müht sich, ein Grillfeuer zu entfachen und hüllt die Nachbarschaft in dichte Rauchschwaden. Muddi redet auf ihn ein; man versteht nichts, das aber laut. Der Fußballkommentator im Fernsehen muß ja übertönt werden. Vaddi bricht den Grillversuch ab, bevor er ins Abseits gerät, ich breche meinen Besuch ab, für das leckere Essen dankend.

Auf dem kurzen Nachhauseweg schallt ein Aufschrei durch die Luft, von überallher; vom Junkietreff tönt eine Stimme: "Tor! Tor!" und eine Gruppe Jugendlicher, immerhin im Freien, beginnt mit Deutschlandgebölke. Eure Eltern möchte ich auch nicht kennenlernen.

Heute will ich es wissen: wie es wohl auf dem Lande zugeht. Schwinge mich aufs Rad und düse los. Bei gutem Ausflugswetter sind kaum Leute unterwegs, doch es gibt einige, die sich durch Fußball nicht von der Erholung abhalten lassen. Just zum Ende des Spiels erreiche ich eine Ortschaft, wo prompt ein cw-Wert-optimierter Kombi, berstend voll mit Familie und fähnchenbeklebt, hupend an einer Ampel hält. An der nächsten Ampel hupt mich so ein Junger an, und sein Kumpel grölt mir fahneschwingend aus dem Beifahrerfenster "Deutschland!" zu. Mehr will ich eigentlich nicht wissen und meide fortan größere Straßen.

Daheim, in der Stadt, sausen die Huper nicht nur vereinzelt herum. Viele sind es allerdings auch nicht gerade, knapp eine Stunde nach dem Spiel. Doch die Wenigen sind bis nach halb Elf aktiv, und immer wieder ertönt "Deutschland" und dazu Gejuchze. Ist das noch ernstzunehmen? Werden die Schmierer morgen von südländischer Atmosphäre faseln, und daß wir Deutschen - ach, was auch immer.

Oh ihr schlichten Gemüter, wie ertragt ihr nur eure eigene Langeweile. Mögt ihr euch dort, wo wir einst alle zusammenkommen, eines gründlichen Schweigens befleißigen. Solltet ihr euch im Himmel bemerkbar machen, werde ich freiwillig in die Hölle wechseln. Wenigstens der Tod soll mich von euch erlösen.

Nachtrag: eben rollen Radfahrer klingelnd durch die Straße. Na also, sind nicht alle so bierernst dieser Tage in - "Deutschland - Deutschland!" Ach, die nächsten Krakeeler.

X - 2 Minuten: mein Heimweg führt am Pauli-Deich entlang, die Domglocken läuten, die Straßen sind leergefegt, keine Ruderer auf dem Wasser, keine Skater in Sicht, nur ein paar vereinzelte Radfahrer kommen mir entgegen. Aus einem offenen Fenster höre ich Beifallklatschen.

Ziemlich genau um 18 Uhr betrete ich meine Wohnung, begebe mich sogleich zum Herd, Essen aufwärmen, trete dann kurz auf den Balkon, Campanula, Grasnelken und so kleine Blüten in einem ganz aparten Rot bewundern. Wenig später gellen erste Schreie durch die Straße. Tor?

Kurz darauf weiteres Geschrei. Jetzt muß aber wirklich ein Tor gefallen sein. Und wieder Rufen und etwas, das wie "geh rein!" klingt, im Licht späterer Nachrichten aber auch "oh nein!" gewesen sein könnte. Dann ist eine halbe Stunde lang beklemmende Stille. Oh je, wieder so ein Gurkenspiel, denke ich, inzwischen beim Essen.

Dann noch einmal Aufregung: "Oh!" und "Ah!". Halbzeit. Das Telefon klingelt, ich schiebe den letzten Bissen in den Mund. "Störe ich dich beim Essen?" Die Schrör. Wir ratschen dies und das, da höre ich erneut Geschrei. Die Schrör klärt mich auf: "Es steht 3:1." Toll, sage ich, wir besiegen Costa Rica. Wir ratschen weiter, bis - "Jetzt ist 3:2. Noch 18 Minuten." Wir legen auf. Die vereinzelten Schreie klingen jetzt beinahe entsetzt, soviel Aufregung macht sich darin Luft. Also wie jetzt, 4:2 oder 3:3 mit anschließendem Elfmeterschießen? Dann Autokorso, Gewaltmarsch durch die Innenstadt?

Während ich den PC hochfahre, um das amtliche Endergebnis dieser Schlacht der Titanen in Erfahrung zu bringen, fährt in meiner Straße ein Pkw hupend los. Toll, denke ich, mich wiederholend. WIr haben Costa Rica besiegt. Wer hätte das vorher gedacht, nicht wahr. Und tatsächlich, da steht es: Deutschland - Costa Rica 4:2.

Und noch während ich diese wahre und überaus aufregende Begebenheit aus dem wirklichen Leben heruntertippe, höre ich eine einzelne Stimme bölken: "Deutschland, Deutschland, über alles!" Ja, heute sind wir wieder wer. Ist doch schön. Nur, wer sind wir?

Ach so. Deutschland.

Der Knabe hatte fest die Hand des Vaters gehalten, als sie das Museum betraten.Er war so aufgeregt: die Bilder und Statuen im Original zu sehen, die er aus den Büchern seiner Eltern kannte; an der Erwachsenenwelt teilhaben zu dürfen, für reif genug befunden zu sein!

Der Vater gesellte sich zu einer Gruppe Menschen unterschiedlichen Alters und sagte dem Kanben, daß jemand vom Museum mit ihnen allen herumgehen und die Kunstwerke erklären werde. Der Knabe freute sich darauf, fragte sich aber auch, ob er das schon verstehen würde. Eine freundliche Frau erschien, jünger als seine Mutter, blinzelte ihm zu und nahm die ganze Gruppe unter vielen Worten mit sich, in die Räumlichkeiten des Gebäudes hinein.

Der Knabe dachte sofort, daß sie in einem Kaufhaus seien und wollte dem Vater schon sagen, daß sie sich in der Tür geirrt hätten, doch die freundliche junge Frau ließ mehrmals das Wort "Kunst" verlauten und keiner der Erwachsenen schien sich im geringsten zu wundern. Stühle gab es, Tische, ein Bett, einen Kühlschrank, Schaukelpferde, Fußbälle, Schnüre, Spiegel und anderes Gerät, und vor jedem Teil verharrten sie und lauschten den Worten der freundlcihen jungen Frau.

Dann standen sie im Halbkreis um eine Stehlampe. "Diese Installation beeindruckt durch ihre Lampenartigkeit", sagte die freundliche junge Frau mit merklichem Stolz. "Sie hinterfragt die Lichhaftigkeit des Seins, lotet den Wechsel zwischen Hell und Dunkel in nicht dagewesener Präzision der Beobachtung aus." - "Aber Papi, das ist doch eine Stehlampe", sagte der Knabe, und die Erwachsenen lachten. Oh, die Unvernunft der Kinder! Die freundliche junge Frau schenkte ihm ein Bonbon. "Das ist hier ein bißchen langweilig für dich, nicht?" fragte sie.

Als die Gruppe weiterging, trat der Knabe entschlossen zur Stehlampe hin und drückte den Schalter, aber das Licht ging nicht an. Es mußte ein Irrtum sein. Hieß denn "Kunst", daß Geräte, die nicht funktionierten, in ein Museum gestellt wurden? Und wo waren jetzt all die interessanten Bilder und Statuen? Ein Ahnung zukünftiger Konflikte beschlich den Knaben und drückte ihm den Magen zusammen. Als er zur Gruppe aufschloß, achtete er sorgfältig darauf, nur die dunklen Stellen des Fußbodens zu betreten. Die Anspannung rechtfertigte sein Unwohlsein.

Viele Menschen sehen aus wie Kartoffeln, haben aber weniger Grips.

Das passiert mir auch nicht alle Tage: als ich im Supermarkt meine leeren Bierflaschen in den Rückgabeautomaten schieben will, hängt da noch ein alter Bon im Schlitz, immerhin, 32 Cent. Niemand in der Nähe? Dann ist das meiner. Mit dem fremden und meinem eigenen Bon gehe ich durch die Schranke, am Brot vorbei, will bei den Salaten nach links abbiegen, vorbei an Kaffee/Tee (rechter Gang) und Waschmitteln (linker Gang), da kommt mir eine Frau Ende fünfzig entgegen, ein wenig derangiert wirkend, die Stimme ein wenig zu aufgeregt: "Wer hat meinen Zettel, ich brauche das Geld." - "Mit Pfand?" frage ich zurück, zücke schon die Brieftasche und ziehe den Bon heraus. "Ich hatte vier Flaschen Bier", sagt sie mit leicht slawischem Akzent und immer noch zu aufgeregt. "Sie sind ehrlicher Mensch", dann, als sie ihr Wertpapier in Händen hält. "Willst du, ich gebe dir ein Bier." - "Danke, das ist nicht nötig." - "Aber ich freue so! Ich nicht habe viel Geld, und gerade Tochter etwas gegeben, sie will immer so viel. Weißt du? Kinder sind teuer." - "Ja, das waren wir als Kinder auch." Mein Talent für bedeutungsschwangere Allgemeinplätze. Unsere Einkaufswege trennen sich, ich höre sie noch hinter einem Regal rufen, mit leicht slawischem Akzent und etwas zu aufgeregter Stimme: "Ehrlich währt am längsten."

Ihr Mund ist ein bißchen asymmetrisch, die Nase dick, die langen grauen Haare formlos. Ich habe so ein Gefühl, wahrscheinlich ganz falsch. Doch sie erinnert mich an andere Frauen, mit ähnlicher Stimme, mit ähnlichen Sprüngen im Gespräch (ich hab das hier sehr stringent wiedergegeben), an Frauen, die Magnete und Steine und eventuell Engelsbilder in ihrer Wohnung haben, energetisiertes Wasser trinken und regelmäßig zum Heilpraktiker pilgern, vielleicht auch schon Pillen, Pülverchen, Pilzen und Produkten der Hanfpflanze zugesprochen haben, mit einem Bein im Irrsinn stehen und sehr ähnliche Symptome zeigen wie diese Frau.

Ich halte mich etwas länger in den Gängen auf als erforderlich, weil ich hoffe, daß sie bereits gegangen sein möge, wenn ich zur Kasse komme. Denkste! Da steht sie, eine Kundin vor mir, und erzählt der Kassiererin ihre Geschichte, erblickt mich: "Dieser junge Mann ist so ehrlich, hat gegeben Zettel. - Wollen Sie Bier?" - "Danke, nein, das ist schon in Ordnung." Und sie erzählt noch Manches, mit lauter Stimme, leicht slawischem Akzent, einen Tick zu aufgeregt und ein bißchen sprunghaft. Als ich an der Reihe bin zu zahlen, geht sie von dannen. Die Kassiererin dreht sich zu ihrer Kollegin um: "Die geht mir ja so was von auf die Nerven. Neulich hätte ich die fast rausgeschmissen." Sie ist im selben Alter wie die Aufgeregte, ein einfaches Mädel mit gescheiterten Träumen, heute wieder mit einer anderen Haartönung, die Pölsterchen im Gesicht nehmen zu. Zu mir ist sie dann aber sehr freundlich, vielleicht etwas zu freundlich, doch auch das nehme ich gelassen hin. Ich meine, solange ich nicht angezickt werde?!

Im Schutz der Dunkelheit hatte sich Walter an den Sprayer vor seinem Haus herangeschlichen. "Hab' ich dich!" rief er und trat dem Überraschten in den Arsch, daß er gegen die Wand krachte. Walter entriß ihm die Spraydose und hieb ihm eine Faust auf den Solar Plexus, als der Kerl sich umdrehte. Der ist ja älter als ich. Der Mann sackte auf die Knie und keuchte: "hrrrrg - bin - hrrrg - Poli - hrrrg - zei - hrrrg - underhrrrg - coverhrrrg - Po -". Po? Das kannst du haben. Walter sprühte ihm den Arsch bis zwischen die Beine ein, mit einem satten Rot, wie er im Sonnenlicht zufrieden feststellte.

Dort kamen Leute, hatten sie ihn beobachtet? Walter hielt die Spraydose so, daß er sie in der Hand barg und stahl sich um die Ecke. Er bog nach links auf den Platanengesäumten Weg am Deich ein. Die Pusteblume war nur noch ein welker Stengel in seiner Hand, die Samen fortgeweht. Sich zunehmend unbehaglich fühlend mied er die Blicke der Passanten und ging den Flur hinunter, stieg die Treppe hinauf und verharrte vor dem Klassenzimmer im Obergeschoß, wo an Kleiderhaken die Wand entlang Jacken und Mäntel hingen. Er schob den Brief, den er in die zylindrische Hülle einer Rohrpost gelegt hatte, in eine Tasche ihres Mantels. Wie sie wohl reagieren wird?

Es läutete zur Pause und er schob sich in den Winkel zwischen Schrank und Wand, um nicht gesehen zu werden. Die Mädchen eilten zur Tür hinaus, zogen ihre Jacken an und gingen schwatzend die Treppe hinunter. Sie war nicht dabei, ihre Jacke hing noch am Haken. Die Lehrerin trat heraus und sagte, während sie zu einem anderen Raum ging - und ohne auch nur andeutungsweise in seine Richtung zu blicken - : "Ich weiß, daß du da bist, du brauchst dich nicht verstecken." Sie schloß die Tür zur Honigstube auf und ging hinein, ohne das Licht anzuknipsen. Es war nun überall im Gebäude dämmrig, fast schon finster. Ihm war unheimlich. "Komm", sagte ihre Stimme. Ein Sog zog Walter unaufhaltsam und sehr rasch auf das dunkle Rechteck der Türöffnung zu. Vage unterschied er eine unförmige Gestalt, die ihn erwartete, um ihn - zu verschlingen! Angst schnürte ihm die Kehle zu, als er zu schreien versuchte; er würgte einen Laut hervor -

Er tastete im Dunkeln panisch nach dem Lichtschalter, fand ihn, setzte sich im Bett auf. Er war von einem erstickten Laut erwacht, den er selbst ausgestoßen hatte. Mann, sowas hab' ich schon Ewigkeiten nicht mehr geträumt. Er zitterte und sein Herz pochte hart. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, erinnerte Walter sich an den heftigen Flirt am Vortag beim Bäcker. Diese füllige Frau Mitte fünzig hatte ihn ganz schön angemacht und er hatte mitgehalten, weil sie so etwas Verlockendes hatte. Als er ihr beim Verlassen des Ladens einen letzten Blick zuwarf, hatte sie - ausgerechnet mit ihrem Ehering! - eine so eindeutige Geste von Hin und Her gemacht, daß - hmmm. Sie waren für diesen Abend verabredet, yes, sir! --- Weshalb hatte er immer noch dieses unbestimmte Angstgefühl?

fühle ich mich meistens unwohl, weshalb, ich verspüre kein Bedürfnis, mich mit dem Herrn oder der Dame zu unterhalten, es wird doch nur Blabla. Aber diesmal war es interessant. Der Herr Friseur, eine Ich-AG Mitte dreißig, schilderte Erlebnisse mit dem Arbeitsamt (jajaja, heißt Arbeitagentur, bitte, danke, Furz).

Er mußte seine Kontoauszüge vorlegen, aber es fehlte einer, natürlich ein älterer, Wochen zurückliegender. Bei der Bank sagte man ihm, diesen Auszug aus dem Archiv zu holen und original nachzudrucken werde 50 Euro Gebühr kosten. Kostenlos sei aber eine Kontenübersicht, in der alle Buchungsvorgänge eines gewünschten Zeitraums tabellarisch aufgelistet seien. Unterschrieben und gestempelt wurde dieser Beleg auch vom Arbeitsamt (Furz) anerkannt.

Aber die Verhältnisse des damals noch arbeitslosen Friseurs änderten sich, Formulare waren auszufüllen, die Kontoauszüge erneut vorzulegen, eine andere Sachbearbeiterin wurde für ihn zuständig. Diese, Anfang zwanzig, bemängelt die Kontenübersicht. Er müsse schon den Kontoauszug beibringen. - Aber in der Übersicht stehe doch alles drin, sie sehe ja auch, daß er die nicht habe fälschen können, weder drucktechnisch, noch in puncto Unterschrift und Stempel, das sei ein beglaubigtes Dokument. - Es müsse nun einmal der Kontoauszug sein. Wenn er den verloren habe, müsse er ihn eben von der Bank erneut besorgen. - Aber das koste ihn 50 Euro, und die habe er ganz einfach nicht. - Dann müsse er sich das Geld eben leihen, ob er denn nicht Verwandte habe? Im Übrigen lasse sie sich ihre Kontoauszüge zustellen und hefte sie immer gleich ab, da gehe keiner verloren. Er müsse vielleicht sein Leben anders organisieren.

Weil Frau und Kind dabeiwaren, so sagte der Friseur, habe er sich beherrscht und sich mit einer Ausrede verabschiedet. Anderntags ging er gleich zum Empfangsschalter des Arbeitsamtes (Furz), schilderte den Vorfall und sagte, er wolle mit dieser Sachbearbeiterin nichts mehr zu tun haben. - Wer das denn sei? - Er beschrieb die junge Frau und erinnerte sich außerdem an ihre Zimmernummer. - Ach, die.

Da solche Kreaturen beim Arbeitsamt (Furz) noch in der Minderheit sind, wurde er problemlos einer anderen Person zugewiesen und mit seinem Antrag ging nun alles glatt. Ende gut, alles gut, nicht wahr. Aber was wird, wenn diese von TV-Konsum, Schul-Unbildung sowie handelsüblichem Eoterik- und BWL-Dreck verseuchten jungen Leute in der Mehrheit sind?

 

twoday.net AGB

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