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Beobachtungen in der Natur

Eigentlich müßte ich das in die Rubrik 'meine Tiere' schreiben. Am Donnerstag begegnete mir eine Schwanfamilie: eingerahmt von den Eltern schwammen sechs Jungschwäne daher, schon stattlich groß, aber noch graugefiedert. Eine beeindruckende Flotte, zumal Schwäne immer so stolz wirken. Rund um das Gartenfast am Samstag gab es noch mehr zu sehen: eine kleine Heuschrecke, einen Schuster, der sich an der Decke aufgehängt hatte (hing da wie tot), Rotkehlchen (quicklebendig), Pfauenaugen, kleine Füchse und einen Admiral; jawohl, endlich habe ich einen echten Admiralfalter gesehen.

Aber ich wollte vom Gartenfest erzählen. Auf dem Hinweg mühten sich einige Mamas&Papas einen schmalen, steilen Weg hinauf, den ich hinabsauste (Fahrrad!), als hinter der Kurve wild klingelnd so ein später Pubertäter direkt auf mich zuschoß. Ich konnte gerde noch zur Seite lenken und, während er schlingernd zwischen mir und den älteren Mitbürgern hindurchwitschte, "Arschloch" rufen. Der Schwanz soll ihm abfaulen!

Das Gartenfest war dann ganz schön. Wir saßen auf der windgeschützten Terrasse, umrahmt von Luftballons und Lampions; der Grill knisterte nach dem Essen noch vor sich hin, Funkenflug verursachte spontanes Ballonplatzen. Während die Gästezahl abnahm, stieg der Alkoholpegel. Vor dem Schlafengehen konnte ich noch einen Sternenhimmel bewundern, wie ich ihn auch bei klarster Luft zuhause nicht zu sehen bekomme. Ein Sternbild, das ich vor Jahren fälschlich für den Skorpion gehalten hatte, wurde mir dann und dort als Cassiopeia vorgestellt. Nun kenne ich also zwei Sternbilder mit Namen. Das sind echte Fortschritte.

Ach, ich vergaß: eine Lehrerin, die sich gar nicht wie eine Lehrerin benahm (die machen ja heutzutage alle einen auf harmlos), erzählte, daß sie ihren Schülern (deren Handys sie gelegentlich wegen Gedüte im Unterricht "konfiszieren muß", unvergänglicher Pädagogenhumor) beim Thema Akustik immer das Dosentelefon vorstellt. Wir stellten uns vor, was sich daraus für die Sechstklässler an Fragen ergibt. Zum Beispiel, wie man mit der Schallübertragung per Bindfaden Netzwerke realisiert. Oder ob es coole Nokia-Dosen gibt.

Am Morgen frühstückte der harte Kern, die vier Tapferen, mehr oder minder angeschlagen, ich mit reichlich Restalkohol. Für mich kein Problem, nur war mir von den vielen Zigaretten schlecht. Danach saßen wir schlapp im Sonnenschein. Völlig passiv ließ ich zu, daß ein Rotkehlchen auf meinen Fahrradsattel pupste. Motorengebrumm kam vom Himmel: ich wies darauf hin, daß sich eine umfangreiche Wolke in Richtung Sonne bewegte. Den Zusammenhang hätte sonst natürlich niemand bemerkt, so sind die, herzensgut, aber unaufmerksam.

Plötzlich knallte es: ein Luftballon war geplatzt, einfach so. Ein anderer schrumpelte zusehends und machte einen depressiven Eindruck, wie Brigitte feststellte. Da wir gerade über Webseiten geredet hatten, improvisierte ich: "diese Website enthält Darstellungen von depressiven Luftballons. Suizidgefährdete Nutzer sollten diese Seite nur in Begleitung ihres Arztes oder Apothekers aufsuchen." Marcus ergänzte: "oder eine rosarote Brille aufsetzen." Und ich: "klicken Sie hier, um einen rosaroten Elefanten zu sehen. - Wann läßt die Wirkung denn endlich nach?" (ich kam mir vor wie auf einem Trip)

Dann piepte ein Vogel aus dem Off, das heißt, was heißt: piepte. Der morste eindeutig. Piep pieppieppiep pieppiep piep piep pieppieppiep. Wir nahmen an, daß er ein Dosentelefon benutzte, konnten aber keinen Bindfaden entdecken. Also ein Dosentelefon mit unsichtbarem Bindfaden. Ein Rotkehlchen-Dosentelefon. Vollkommen logisch.

So ist das, wenn nach dunklen Tagen endlich wieder die Sonne scheint, ob mit oder ohne Restalkohol. Man ist bekifft davon. Und ganz wie beim Kiffen kann kein Außenstehender dem Gespräch folgen. "Wann läßt die Wirkung denn endlich nach?"

Auf der Heimfahrt, an der zuvor beschriebenen Stelle, ging ein Paar mit Hund den Weg hinauf (ich glaube, das Herrchen ließ sich vom Hundchen ziehen), ein anderes, auch nicht mehr junges Paar setzte zum Überholen an. So gingen sie für kurze Zeit zu viert nebeneinander und ließen weder links noch rechts auch nur einen Millimeter Raum. Ich klingelte höflich, aber ohne jeden Respekt; keiner der Vier drehte sich um oder machte Platz. Nur die überholende Dame auf Linksaußen wackelte demonstrativ mit ihrem Hinterteil. Die Einmündung eines anderen Weges gab mir Gelegenheit zum Vorbeifahren. "Das haben sie aber cool gemacht, junge Dame", sagte ich mit maximaler Verachtung, also ohne sie eines Blickes zu würdigen, und hörte, während ich zügig Tempo aufnahm, noch den Anfang einer ab-so-lut vernichtenden Bemerkung, die sie zu ihrem Begleiter machte: "Jetzt darf man nicht mal mehr ..." - Ach geh doch deinen Arsch anderswo schaukeln.

So etwas gehört natürlich nicht in die Rubrik 'meine Tiere', die der liebevollen Würdigung des Gekreuchs und Gefleuchs vorbehalten ist.

Gestern fuhr ich mit dem Rad los, um eine Freundin zu besuchen, die außerhalb Bremens wohnt. Sie hatte mir einen Weg abseits der vertrauten, aber öden Hauptstraßen empfohlen und es lohnte sich, ihrem Rat zu folgen. An einer bestimmten Stelle ("Iprump", was an Apple denken läßt, aber nur eine handvoll Häuser ist) verließ ich also die direkte Route. Nach höchstens fünfhundert Metern befand ich mich in ländlicher Umgebung: Wiesen, Felder, Gräben, Baumgruppen, Bauernhäuser, Pferdekoppeln, Viehweiden, Gänse, Hühner. Kaum ein Auto kam des Wegs und es fuhr sich angenehm im Schatten der Chausseebäume.

Natürlich hatte ich die neue Route zuvor auf einer Karte studiert und mir die wichtigsten Straßennamen gemerkt. Glaubte ich jedenfalls. Prompt verpasste ich die richtige Abzweigung, bemerkte das auch bald, ließ aber die Abzweigung Abzweigung sein, sprich: bekümmerte mich darob nicht, denn der Weg gefiel mir, obwohl nun statt holprigem Asphalt staubiger Lehmboden den Untergrund bildete. Ich fuhr an einem Nadelhölzwäldchen entlang, die Luft roch würzig, Vögel sangen und ich hatte zwar die richtige Straße, nicht aber die Orientierung verloren. Bald gelangte ich an einen kleine Rastplatz und besah die aufgestellte Karte ("Sie befinden sich hier"). Na also, links die Straße rauf, immer geradeaus, und schon bin ich wieder auf der Route und bereits nahe am Ziel.

Dann stand ich vor der Baustelle. Vollsperrung. Kein Weiterkommen in gerader Richtung. Notgedrungen bog ich in die Irrgänge einer Neubausiedlung ein. Nicht nur, daß hier Kurve auf Kurve, Straßeneinmündung auf Straßeneinmündung folgte, es sah auch überall gleich aus, wie die Siedlung selbst auch tausend anderen Neubausiedlungen der letzten zehn, fünfzehn Jahre glich: blitzsaubere Legohäuser mit blitzsauberen Vorgärten an blitzsauberen Straßen, die alle mit blitzsauberen Quadersteinen gepflastert sind, blitzsauber aneinandergefügt. Keine Läden, keine Treffpunkte, fremdartig wirkende Kreaturen in Menschengestalt (falls man überhaupt wen außerhalb Haus oder Auto antrifft), Gartenzwergidylle, Zombie-Ort. Schlagartig war die Orientierung futsch.

Irgendwie habe ich wieder hinausgefunden, bevor mich Panik überwältigte und bevor sich die Anwesenheit eines lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut - aus frischem Fleisch und frischem Blut! - hätte herumsprechen und sie die zweifellos vorhandenen, aber gut getarnten Tigerfallen, in denen sie ihre unglückseligen Opfer zu fangen pflegen, hätten aktivieren können. - Schweißgebadet kam ich bei der Freundin an, erzählte von dem Umweg (wie ich es nannte), verschwieg aber den Ort des Grauens. Sie kommt ohnehin nie in diese Gegend, weshalb sie beunruhigen, weshalb mich - innerlich noch zitternd - erinnern!

Wanderer, zu Fuß oder zu Rad, meide die Neubausiedlungen. Sie halten Schlimmeres für dich bereit als dieses harmlose Spottlied ahnen läßt ...

Die Jungs waren alle nicht so helle, aber auf dem Bolzplatz sind Schöngeister auch nicht gefragt. Meyer und ich gingen aufs Gymansium, doch - wir können auch anders - Fußball mußte sein, jeden Nachmittag, vom Frühjahr bis in den Herbst. Schulzen hat ab und zu einen Recorder mitgebracht und wir hörten Sachen wie "Hocus Pocus" von Focus und das andere gute Teil von denen. Andi und Hoyer, Frankie und Stapo, später noch Neske, und, immer betulich, Günter - andererseits konnte der aus zwanzig Metern den Ball treten, daß du die Hand nicht so schnell hoch hattest, wie die Pille ins Netz gerauscht kam.

Mitten im Sommer kletterten die Türken auf unseren Platz. "Ihr spielt jetzt gegen uns Fußball, sonst kriegt ihr was auf die Fresse!" Frankie wollte weglaufen, hat sich aber nicht getraut; wir anderen waren plötzlich ganz wild auf Fußball mit den Türken. Hinter ihrem Gehabe waren die schon in Ordnung. Als ich mal Sepp Maier im Tor vertreten hab und mir in den Kopf gesetzt hatte, keinen Ball reinzulassen, rief der Älteste von denen: "Wenn du nochmal hältst, hau ich dir auf die Schnauze!" Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er das ernst meinte - ist doch nur Spiel - und hab gelacht. Passiert ist nix; keine Tore, keine Prügel.

Zwei von den Türken - ein Brüderpaar - waren aber übel drauf, hatten so richtige Haßgesichter und mußten immer endlos mit dem Ball herumfummeln. Hat natürlich nichts gebracht; schließlich wollten ihre eigenen Kumpels nicht mehr mit ihnen spielen. Insgesamt haben wir voreinander Respekt bekommen. Sie merkten, daß wir nach und nach gerne mit ihnen spielten (außer mit den Scheiß Brüdern), wir merkten daß sie nicht halb so scheiße waren, wie sie sich gaben. Aber wir blieben vorsichtig und distanziert. Hätt' ja sein können, daß die sich doch noch aufs Prügeln verlegen.

Einmal kam Amigo angerannt: "Da hat mich einer Kümmeltürke genannt!" Zehn Mann hoch zogen sie los, den Beleidiger zu vertrimmen. "Kommst du mit?" fragten sie mich. "Nein," hab ich gesagt, "ihr seid doch schon genug." - "Ich dachte, du bist unser Freund." Hab ich nur gesagt, mich hätte der ja nicht beleidigt; ich fänd's auch nicht so toll, mit so vielen auf einen loszugehen, und am besten lachten sie einfach, wenn jemand so etwas zu ihnen sagte, das sei doch nicht ernst zu nehmen. Das war ihnen nicht recht, aber sie haben es hingnommen.

Ich konnte ihnen schlecht sagen, daß ich das Wort "Kümmeltürke" überhaupt nicht beleidigend finde - es klingt gut, Kümmel ist gut, und ich mag dieses Wort: Kümmeltürke. Es hat den Zauber einer fernen, unbekannten Welt. - Und political correctness ist für Leute, die gern über andere herziehen wollen, aber nicht ohne Erlaubnis.

Gestern hab ich mal wieder die Schrör besucht. Mangels Eßbedürfnis begaben wir uns in keines der Nationalitätenrestaurants und zählten nicht - wie vor einem Jahr - die leerstehenden Geschäfte, die sich entlang des "blauen Bandes" aufreihen wie an einer Perlenschnur, nur daß es eben keine Perlen sind, sondern Unkostenoptimierungsoffensivenruinen. Wir saßen auf ihrer Bude, tranken erst Kaffee, dann so andere Sachen, und erzählten uns was. So erfuhr ich von den Zwillingen.

Die Zwillinge heißen Stefan und Klaus und sind gar keine Zwillinge, sondern zwei weder verwandte, noch verschwägerte erwachsene Männer Mitte dreißig, die bei Partys, in Discos und in Kneipen stets gemeinsam erscheinen. Sie kennen sich, weil sie im selben Betrieb gearbeitet haben, und Klaus, der etwas weiter draußen wohnt, holt auf seinem Weg zu den Vergnügungszentren Vegesacks Stefan ab. Sie erscheinen nicht nur gemeinsam, sondern trinken dann auch oft zusammen an Tischen und Theken.

Doch einmal erschien Stefan ohne Klaus. "Wo hast du denn Klaus gelassen?" fragte man sofort. Stefan antwortete mißgelaunt: "Ich hab keine Ahnung, wo der steckt. Der hat mich heute nicht abgeholt." Rätselhafte Antwort. "Hast du denn nicht bei ihm angerufen?" - "Ich weiß doch seine Telefonnummer nicht." Mehr und mehr Rätsel. "Aber du hättest doch ihn abholen können." - "Weiß ich wo der wohnt?!" - "Hä? Ihr seid doch befreundet, und du weißt nicht wo der wohnt?" - "Der ist nicht mein Freund!"

Das hindert sie aber nicht, nach wie vor gemeinsam auf Szene zu gehen, und so werden die beiden Nichtfreunde auch weiterhin die Zwillinge genannt.

Es gibt Tage, da gehst du nach dem Aufstehen am besten gleich wieder zu Bett. Oder läßt das Aufstehen gleich ganz weg. Die Zeichen sind eindeutig: der Schmerz im Zeh, wenn du gegen die Kante des Bettkastens trittst, der Flug der Seife, die sich dem Zugriff entzieht, das Splittern der Tasse, die du einen Millimeter zu schräg und zu kurz auf die Spüle stellst. Die Decke über den Kopf gezogen und nichts getan!

Aber nein, du willst nicht glauben, was du doch längst ahnst. Also springt auf dem Weg zum Einkauf die Fahrradkette ab, also kommt vom Hinterrad ein widerliches "Pluff", wenn du die verschmierten Hände wieder am Lenker hast - eine Speiche ist abgerissen -, und an einem solchen Tag gehst du natürlich in jenen Supermarkt, dessen vollelektronische Doppelschranke schon vorige Woche sehr zögerlich reagierte. Diesmal ist sie so zögerlich, daß du sie mit dem Oberschenkel wegknackst, was ein ekliges Fiepen auslöst und zur Vollsperre der zweiten Schranke führt; nur gut, daß die noch keine Selbstschußanlagen wie damals an der deutsch-deutschen Grenze installiert haben.

Unter vorwurfsvollen Blicken hat dich eine Angestellte hereingelassen und nun hast du die Bescherung: Obst und Gemüse sind importierte Luxusartikel, die Milchtüten alle gestaucht, der Boden des Fachs weißlich verschwommen, für Frühlingsrollen ist gerade wieder keine Saison, immer steht dir einer dieser Ehemänner im Weg, die von ihren Frauen zum Mitkommen genötigt werden, schließlich stellst du dich - aber wenigstens das ist normal - bei der falschen Kasse an, dort, wo es einfach nicht voran geht. Die Kassiererin hält deine fahrradschmierigen Hände für Auswüchse einer ansteckenden Seuche, und in der Drehtür geht dir der Schnürsenkel auf.

Doch an einem solchen Tag bist du auch nicht belehrbar. Du willst die Mülltonnen reinstellen und merkst viel zu spät, daß die noch gar nicht geleert wurden. Du fährst zu einem Kaufhaus in der Innenstadt und: "Plong" ist die nächste Speiche futsch. Du kaufst eine DVD, weil du sie für eine CD hältst, du musterst skeptisch Ledergürtel, die wie Plastik wirken, und als du einen berührst, fällt der daneben zu Boden und die Schnalle zerspringt, du findest wundervolle Hemden unter den Sonderangeboten, nur leider nicht in deiner Größe, die supergünstigen Socken sind aus billigstem Synthetik und bei der Kosmetik sprüht dich eine Parfümtante probehalber ein, weil du Idiot noch immer mit einem freundlichen Gesicht herumläufst. Den kalten Regen, der dich draußen empfängt, hältst du für eine Erfrischung.

Endlich im sicheren Hafen deines Zuhauses, brennt dir die Pizza an, weil du noch mal schnell ins Internet wolltest und völlig konsterniert feststellst, daß die Namensauflösung bei deinem Provider schon wieder nicht funktioniert. Aber irgendwann geht dieser Tag zu Ende und du willst noch ein paar Seiten lesen. Die Leselampe brennt durch, keine Ersatzbirne im Haus. Du öffnest eine Flasche Wein und der Korken riecht nach Hundescheiße. Du öffnest die Fenster zum Durchlüften und dummer Krakeel strömt in dein Refugium. Die Blätter der Topfpflanzen knistern vertrocknet im Luftzug. Du begibst dich zu Bett, verfehlst aber das Hosenbein deines Pyjamas. Das Zerreißen des Stoffs noch im Ohr drückst du Zahnpasta ins Waschbecken. Die Spülung des WC tröpfelt. Nachdem du das Licht gelöscht hast, treibt dich ein plötzliches Hungergefühl wieder aus dem Bett. Danach wummert ein PKW hiphoppend langsam durch die nächtliche Straße.

Doch auf einmal ist es Morgen; ein frischer, unverdorbener Tag liegt vor dir. Nächstes Mal wirst du die Zeichen beachten, das schwörst du dir. Und dann wirst du den Tag im Bett verbringen und dir zahllose Mißgeschicke ersparen. Andererseits - an einem solchen Tag würdest wahrscheinlich in die Matratze pullern.

wähnt man sich schon manches Mal, wenn man dies Gebrabbel und Gestammel in Pseudo-Englisch hört und liest. In den 70ern wurde es sehr modern "Center" und "2000" in Geschäftsnamen zu verwenden und unlängst entdeckte ich eine "Euro-Bäckerei 2000", die ich unbedingt noch fotografieren muß, bevor sie "Food-Depot" oder "Bake&Bite" heißt. Aktuelle Beispiele hören und sehen wir täglich, so daß uns beinahe Hören und Sehen vergehen will.

Aber das ist nur eine Seite der Verblödung. Gestern suchte ich mehrere Buchabteilungen und -handlungen auf, um einen Klassiker der Weltliteratur - aus der zweiten oder vielleicht auch dritten Reihe - zu kaufen. Sofern Regale mit der Aufschrift "Klassik" vorhanden waren, tummelten sich da die Schriftsteller um so seltener, je länger ihr Wirken zurückliegt. Tieck und Fouqé sind ja ohnehin vergessen, nach Hoffmann beispielsweise habe ich gar nicht erst geguckt, Lessing wird man wohl noch führen, Schiller und Goethe gewiß, ebenso gewiß Herder und Wieland nicht - kurz, das gesuchte Buch stand nirgends bereit, kein einziges des bewußten Autoren. Vermutlich wird man es bestellen können, immerhin.

Ich wagte einen Blick in die Abteilung Jugendbücher, denn dort sollten doch Abenteuerbücher oder solche, die man unter diesem Begriff vermarkten kann, stehen. Die Wirklichkeit schockierte mich und ich sagte laut: "Das ist doch für Dreijährige!" Ein ganzes Regal voller Bücher, auf deren Covers kreischbunte Comic-Zeichnungen und reißerisches Design vom zu erwartenden Lesespaß künden, die Buchdeckel schamlos den Kunden zugewandt. Sind die Jugendlichen tatsächlich dem Geistigen so abgewandt, wie die Verlage mit ihrer Aufmachung in Konkurrenz zu PC-Spielen, Comic-Heften und Hollywoodfilmen anzunehmen scheinen? Arme Jugend! Armes Deutschland!

sagte Martin Held völlig indigniert in einem dieser Edgar-Wallace-Filme, als trotz Polizeischutz wieder ein Mord passiert war. Manchmal liest man ein Buch, sieht einen Film, hört eine Platte nur wegen einer kurzen Stelle. Im "Odysseus" will leider keine solche Stelle auftauchen, also habe ich die Lektüre vorläufig eingestellt und mir wieder "Die wilden Jahre in Berlin" vorgenommen, die zwanziger Jahre aus Frauensicht. Die avantgardistische Tänzerin Valeska Gert war verheiratet, hatte ganz offiziell einen Liebhaber namens Wäscher und verliebte sich in den Regisseur Eisenstein:

Er wollte alle gewöhnlichen und ungewöhnlichen Lokale sehen. Manchmal mußte ich draußen bleiben, weil nur Männer eingelassen wurden, aber er blieb immer nur Minuten drin. Ich war gelähmt vor Leidenschaft zu ihm und konnte in seiner Gegenwart kaum sprechen. Ihm ging es ebenso. Manchmal lag er in meinem Arm auf der Couch, wir waren stumm und konnten vor Lähmung nichts tun. Mein Mann sagte: Da ist es mir schon lieber, du schläfst mit dem Wäscher.

fragt die Zeitschrift EMMA (Sophie Scholl ist gemeint), und dreizehn Frauen im Alter von 18 bis 37 Jahren antworten, darunter je eine Abgeordnete von SPD, PDS, CDU und Grünen. Die sagen mehr oder weniger ihr Parteisprüchlein auf, aber wie soll man solch eine Frage auch beantworten? Wir leben in einer anderen Zeit.

Deshalb mag die 37-jährige Sängerin recht haben [alle Zitate habe ich an meine Auffassung von Rechtschreibung angepasst]: "Eine Einundzwanzigjährige mit dem geistigen Potential einer Sophie Scholl wird wohl Politologie studieren, bei Attac eintreten und in spätestens fünf Jahren ihren Platz im Bundestag finden." Nur daß es dazu nicht unbedingt großen geistigen Potentials bedarf, das hindert eher. So sind die Abgeordneten eben davon überzeugt, daß mit ihren Parteien gegen etwaige Ungerechtigkeiten "gekämpft" wird. Was mich an die 'Partei der Institutionalisierten Revolution' in Mexiko denken läßt. Das ist mal ein sprechender Name für eine Partei.

Die 27-jährige Schriftstellerin erklärt: "Oder sie würde an Regierung und Zivile [?] appellieren, darüber nachzudenken, welche Programme denkbar wären, den Arbeitslosen hier einen geeigneten Lehrgang anzubieten, mit dem sie über Monate Entwicklungshilfe in Krisengebieten leisten könnten - das gäbe ihnen nicht nur Arbeit, sondern ein stück über die eigenen Grenzen hinausgehendes Menschenverständnis." Welches Menschenverständnis diese Person hat, fragt sich, aber ich bewundere, wie diese Arbeiterin des Geistes das schlimme Wort "Umerziehungslager" vermeidet. Vielleicht kennt sie es auch einfach nicht.

Umso besser gefällt mir, was die 24-jährige Schauspielerin sagt: "Auch heute gibt es Sophie Scholls, wenn auch weniger: Frauen so wie Männer, Alte wie Junge, die ihr Leben riskieren, um anderen Menschen, Tieren und der Natur zu helfen. Menschen, die lebenslang für Gerechtigkeit kämpfen, die mutig sind und viel inkaufnehmen; Menschen, die nicht nur an sich selbst denken."

Stellt man seinen Antrag auf "Arbeitslosengeld II", wird in einer Tabelle nachgesehen, ob die Kaltmiete den vorgesehen Werten entspricht. Liegt man darüber, wird für ein halbes Jahr die volle Miete übernommen, danach nur noch der Höchstsatz bezahlt. Dessen Höhe hängt vom Baujahr des Wohnhauses ab: bis 1964 - 245 Euro, bis 1992 (?) - 265 Euro, neuer - 345 Euro. Man kann ja innerhalb der sechs Monate umziehen. Nur - wohin? Die arbeitslosen Mieter sind wohl an die Tabelle gebunden, nicht aber die Vermieter.

Zufall, Versehen, Ignoranz, oder Absicht? Genügend Wohnungen für alle, die jetzt "zu teuer" wohnen, gibt es nicht, und wie wir wissen, werden die Mieten auch in Zukunft nicht eben niedriger werden. Und selbst die Einrichtung von Mini-, Billig- und Billigstjobs wird die Millionenarbeitslosigkeit nicht aufheben können, geschweige denn die materielle Situation der Arbeitslosen entscheidend verbessern. Die Tendenz geht eindeutig zum Abbau von Löhnen und Gehältern. Eine zunehmende Anzahl Menschen wird vor dem Problem stehen, ihre Miete und laufende Rechnungen einerseits zu bezahlen und andererseits genügend Geld für Ernährung (von Kleidung und anderem Luxus ganz zu schweigen) übrig zu haben. Manch einer wird kriminell werden; irgendwie muß man ja überleben.

Und damit ist das Geschäftsprinzip des Drogenhandels voll auf die Bevölkerung angewandt. Was du brauchst, mußt du bezahlen. Den Verkäufern und Vermietern ist es egal, woher das Geld kommt. Für sie darfst du stehlen und betrügen und dich erniedrigen. Kein Geld? Keine Ware. In diesem Fall hieße Entzug: ohne Wohnung, also auf der Straße leben. Unterernährt sein. In Lumpen herumlaufen. Unter Brücken und in Einfahrten schlafen. Danke Hartz, danke Schröder, danke all ihr neoliberalen Verbrecher mit der weißen Weste. - Schwarzmalerei? In fünf Jahren sprechen wir uns wieder. Man wird sich noch wundern, was in der Deutschland AG alles möglich ist.

Charlie Gillett von BBC London hatte am Freitag in seiner Sendung für Funkhaus Europa einen DJ zu Gast, der sich auch als Musiker, Komponist und Produzent betätigt. Das tun zwar alle DJs, irgendwie, aber es ist doch eher die Ausnahme, daß sie dabei etwas Ähnliches wie Kali hervorbringen (Flash erforderlich; Nr. 2 in der Playlist unten links).

Dieser DJ stellte Auszüge aus seinem Oeuvre vor und quasselte viel über die jeweiligen Mitmusiker in einer Art, wie Sportreporter von jedem Sportler, der sie mal zurückgegrüßt hat, sagen, das sei ein sympathischer junger Mensch. Und wieder quasselte er, diesmal von einem früh verstorbenen Kollegen, mit dem er für die nächsten zwei Jahre Termine und Tourneen unter Dach und Fach gehabt hätte.

"But heeeyyy! life is always what's in front of you, not what's behind you." - Charlie Gillett: "Unless it's all over."

 

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